»Irgendwann werde ich wahrscheinlich keine Stimme mehr haben.« – Benedikt Kristjánsson

Winterreise perpetuum
Der Residenzkünstler Benedikt Kristjánsson unterwirft sich eine Nacht und einen Tag lang einem transformativen Kraftakt: Er singt die Winterreise von Franz Schubert als endlos-Zyklus. Hier finden Sie alle praktischen Informationen zur Performance und den Live-Standort des Sängers während seiner Reise.
Ablauf der Performance
Sa., 11.9.2022, 19:30 Uhr, Viktoriabad: Erster Durchlauf der Winterreise mit Pianist Fabian Müller
Im direkten Anschluss: Wiederholungen des Zyklus (Solo), bis der letzte Zuschauer den Saal verlassen hat (10-minütige Pausen zu jeder vollen Stunde). Auf unserer Instagram-Seite streamen wir Videoeindrücke von der Performance.
So, 12.9.2022, 14 Uhr: Benedikt Kristjánsson singt auf der Bühne der Kleinen Beethovenhalle. Ab 16 Uhr kann das Publikum der Performance beiwohnen.
So., 12.9.2022, 18 Uhr, Kleine Beethovenhalle: Letzter Durchlauf der Winterreise mit Pianist Fabian Müller.
Konzerte

»Fremd bin ich eingezogen – fremd zieh ich wieder aus.«
Niemals ankommen, niemals heimisch werden und nie ans Ziel kommen: Die erste Liedzeile in Schuberts Winterreise scheint eine ganze Existenz zu umreißen. Anfang und Ende der Wanderung liegen in der Fremde, dazwischen liegt ein Menschenleben von transformierenden Erfahrungen, die der Wanderer in Wilhelm Müllers Dichtungen durchläuft. Doch ist es keine lineare Wanderung von A nach B: Anfang und Ende begegnen sich, der Kreis beginnt von vorn. Diese zyklische Dichtung hat Franz Schubert auf einzigartige Weise in einen musikalischen Liederkreis gegossen. Bei der ersten Aufführung im privaten Salon waren Schuberts Freunde erschreckt von der Radikalität seiner Musik. Entsprechend sollte diese Musik nicht in Frack und mit polierter sängerischer Contenance aufgeführt werden, denkt Tenor Benedikt Kristjánsson. Im Gegenteil: Es geht um die Verausgabung bis in den Tod eines Reisenden, der durch sein Leben wandert, durch einsame Ödnis und Gesellschaft, durch Hoffnung und Enttäuschung. In diesem Sinne macht Kristjánsson sich selbst als Sänger zum Material einer Performance, die zum Ziel hat, diesen Zustand im Körper des Sängers herzustellen und bei den mitwandernden Zuhörer:innen manifest zu machen.
Sängerisch gedacht ist das nicht, sondern performativ und prozesshaft. Kristjánsson erklärt seine eigene Motivation dafür so:
»Ich interessiere mich nicht nur für das Singen, sondern auch dafür, meine eigenen Grenzen zu finden. Nicht nur was das Singen betrifft, sondern auch allgemein – geistlich, körperlich.«
An seine körperlichen Grenzen wird der Sänger mit Sicherheit kommen, denn während der Performance wird er die Winterreise als (fast) pausenlose Dauerschleife singen: Als Zyklus, der an seinem Ende immer wieder von vorne beginnt. Damit nimmt Kristjánsson die Zeilen beim Wort, mit denen der Zyklus endet. Im letzten Lied Nr. 24, »Der Leiermann« fragt der Wanderer den Drehorgelspieler am Dorfrand: »Wunderlicher Alter! / Soll ich mit dir geh'n? / Willst zu meinen Liedern / Deine Leier dreh'n?« Man könnte diese Begegnung auch als Begegnung mit dem personifizierten Tod deuten. Ebenso denkbar ist es, hier einen neuen Zyklus von Wanderungen und Gesängen anzuschließen, die der ruhelose Wanderer durchlaufen muss. Diese Assoziation hatte Kristjánsson unmittelbar beim Hören des Stücks im Konzert:
»Als ich das zum ersten Mal gehört habe, dachte ich nach dem letzten Lied: das erste Lied könnte jetzt gleich anfangen, man könnte es gleich nochmal machen …«

Für Kristjánsson ist die Frage, wie das Publikum mit dieser zyklischen Darbietung umgehen wird, besonders spannend. Denn den Zuhörer:innen wird freigestellt, wie sie sich zu seiner Performance verhalten möchten, sobald der erste Durchlauf des Stücks auf der Bühne des Viktoriabads vorbei ist. »Ich gebe den Zuschauern keine Möglichkeit jetzt zu klatschen, weil das Konzert vorbei ist, sondern ich singe gleich weiter. Und somit muss sich das Publikum irgendwann entscheiden: werde ich jetzt weiter hier sitzen, oder werde ich gehen und den Sänger alleine lassen in seinem Leid?« Jeder und jede von uns, der oder die dem Sänger bei seiner Reise beiwohnt, ist ein Teil dieses Experiments, das Kristjánsson mit sich und der Musik vorhat.
Dabei ist die Verwandlung für den Sänger das entscheidende: Die Verwandlung, die durch den Zeitraum und durch die Ermüdung zu einer realen, an Leib und Seele erfahrbaren Transformation werden wird. Beim letzten Durchlauf der Winterreise am Sonntag um 18 Uhr in der Kleinen Beethovenhalle wird der Sänger ein völlig anderer sein, vielleicht sogar etwas völlig anderes.
»Dann sieht man keinen Sänger der die Winterreise singt, sondern man sieht einen total wahnsinnigen Typen, der irgendwie immer noch versucht, Kunst oder Musik zu machen. Und ich bin, denke ich, der Typ geworden, der die Winterreise tatsächlich singt. Der am Schluss nur den Leiermann sieht.«
