Er gehört zu den Großmeistern des Klaviers: Piotr Anderszewski gibt beim Beethovenfest 2024 ein Recital mit (teilweise) Überraschungsprogramm rund um die Musik Johann Sebastian Bachs.
Eine Knobel-Aufgabe der höheren Art: »Es gibt zwei Stimmen oder drei, mal sind es auch vier. Aber man hat nur zwei Hände und muss diese einzelnen Stimmen wie einzelne Charaktere formen«, sagt der Pianist Piotr Anderszewski über die Herausforderungen der Klaviermusik von Johann Sebastian Bach.
Seit etlichen Jahren kehrt der in Warschau geborene und langjährige Wahl-Pariser Anderszewski regelmäßig zu Bachs Musik zurück. »In diesen Werken gibt es immer eine Geschichte, eine emotionale Erzählung.« Und die möchte er hörbar machen. Daher klingt sein Bach nie analytisch, nie intellektuell, sondern durchaus als etwas Erlebtes.
Anderszewski hat in seiner Laufbahn den geraden Weg vermieden. 1990, beim renommierten Klavierwettbewerb von Leeds, taucht der damals 21-Jährige als No-Name auf und hat lediglich zwei Werke anzubieten: Beethovens »Diabelli-Variationen« und Anton Weberns Variationen op. 27. Sein Beethoven-Vortrag macht ihn schnell zum Mit-Favoriten. Danach Webern. Mittendrin verstummt das Klavier plötzlich. Anderszewski bricht ab, steht auf und geht. Ein Blackout? Nein, sein Spiel sei ihm nicht perfekt genug gewesen, gibt er hinterher zu Protokoll.
Als Kind hört er Beethovens fünftes Klavierkonzert. »Das sind die ersten musikalischen Eindrücke, die mir in Erinnerung geblieben sind. Meine Eltern sagten mir später, es sei die einzige Möglichkeit gewesen, um mich ruhig zu stellen.« Später ist Anderszewski aus der polnischen Ländlichkeit geflohen, dank eines Stipendiums zunächst in die Vereinigten Staaten, dann in die Großstadt, erst London, schließlich Paris – weil die Stadt ihm Einsamkeit bietet. »In den großen Städten kann man die Einsamkeit vielleicht besser finden.«
Anderszewski ist im Gespräch ein Mann der leisen Töne. Er gibt sich eigenwillig konkret, dann wieder elegant ausweichend. Konzerte seien für ihn wie lange Monologe, hat er einmal gesagt. Ob er gern monologisiere? Nein, überhaupt nicht. »Ich kann sehr sparsam sein mit Worten.«
Piotr Anderszewski lässt lieber die Musik sprechen. Sein Repertoire ist eher überschaubar. Mozart begegnet man in seinen Programmen regelmäßig, auch Béla Bartók und Karol Szymanowski, dem – nach Chopin – wohl bedeutendsten polnischen Komponisten.
»Alles an ihm ist außergewöhnlich, über die Norm hinaus«, hat der französische Filmemacher Bruno Monsaingeon einmal gesagt. Piotr Anderszewski sei ein Pianist, der die Möglichkeiten des Klaviers bis zur Perfektion hin ausreize, um seinen musikalischen Ideen Ausdruck zu verleihen. Dabei wirkt er nicht selten unberechenbar – und genau das möchte er sein: Ein Individualist, der sich von nichts und niemandem vereinnahmen lässt. Anderszewski gibt sich kritisch, so dass es ihm mitunter schwerfällt, die eigenen Ansprüche zu erfüllen – selbst wenn das Publikum ihn längst am Ziel wähnt. Andererseits ist er, wie die Tageszeitung »Die Welt« einmal befand, »eine Spielernatur, ein Jongleur, ein Equilibrist, der sich jeden Abend auf dem Podium neu erfindet. Ohne Netz. Er spielt hymnisch und spröde, virtuos und bohrend, schillernd extrovertiert und sich plötzlich in eigenen Labyrinthen verkriechend.«
Damit sind wir wieder bei Johann Sebastian Bach. Ob ihm diese Musik direkt ins Herz geht? »Nein. Ich verstehe sie nicht einmal. Aber sie lässt mir die größtmögliche Freiheit, damit ich etwas von ihr verstehe. Diese Musik ist wie ein Code.« Anderszewskis Bach-Spiel besitzt streckenweise eine rustikale Motorik, lebt dabei aber von einer unbestechlichen Klarheit. »Man kann Bach zum Glück auf so unterschiedliche Weisen spielen. Jedes andere Tempo macht aus seinen Werken ein völlig anderes Stück. Er übersteigt uns ständig. Die Intelligenz dieser Musik scheint mir immer größer als die eigenen Fähigkeiten.« Auch darin ist sich Piotr Anderszewski treu, als Perfektionist mit Understatement.