Chormusik von vor 400 Jahren und elektronische Beats? Stimming reizt die Herausforderung. Als Fellow im Beethovenfest denkt er darüber nach, wie er der maschinellen Perfektion des Synthesizers eine Seele geben kann – zusammen mit dem NDR Vokalensemble. Musikjournalist Patrick Becker hat nachgefragt.
Wie haben das NDR Vokalensemble und Du zusammengefunden?
Das NDR Vokalensemble war ursprünglich auf der Suche nach DJs und kam dann auf mich zu. Dabei wurde schnell deutlich, dass ich kein DJ bin, sondern ein Produzent: Ich produziere die Einzelteile von Musik, um ein fertiges Stück zu machen, ein DJ setzt fertige Stücke zu etwas noch Größerem zusammen. Aber dadurch kann er live überhaupt nicht auf die Musiker:innen reagieren, er könnte nur einige Tracks auswählen, über die das Ensemble dann spielen müsste. Es gab erste kleinere Kooperationen mit Teilen des Ensembles, die so gut liefen, dass wir uns entschieden, die Zusammenarbeit weiterzuführen.
Welche Herausforderungen gibt es denn bei der Zusammenarbeit?
Die Kombination ist heikel, besonders wenn das Programm hauptsächlich aus klassischer Musik besteht. Ich denke, dass große Teile des Publikums richtige Experten auf diesem Gebiet sind und zuhause gute Lautsprecher oder Profi-Kopfhörer besitzen. Deren Erwartungshaltung ist eine ganz andere als bei einem jungen Publikum, das nicht so klassik-affin ist. Deshalb gibt es auch nur sehr wenige Leute aus dem Techno, die sich an Klassik herangewagt haben. Ich habe durch diese Herausforderung wahnsinnig viel gelernt: wie wichtig Stringenz ist und wie wichtig die Geschichten sind, die ich mit meiner Musik erzählen möchte. Zu den Proben komme ich mit meinem beinahe schon fertigen Elektronikanteil, sodass wir mit dem Ensemble vor allem an Timing und Intonation feilen können, während ich lerne, wo ich verlangsamen, wo ich auf den Chor reagieren muss.
Wie manifestiert sich Deine künstlerische Herangehensweise in der Musik?
Ich stelle die Chormusik und meinen eigenen Beitrag gleichbedeutend nebeneinander. Am Ende soll daraus eine Chorplatte mit Elektronik werden. Nehmen wir eins der älteren Stücke im Programm, Sweelincks »Miserere«, über 400 Jahre alt, beruhend auf einem einfachen gregorianischen Gesang: Da füge ich ein paar Beats hinzu, gerade weil diese Komposition so einfach ist, dass das gut funktioniert. Das namensgebende Stück des Konzerts wiederum, Janáčeks »Die Wildente«, ist an sich schon so komplex, dass ein ganz sanfter Sound vom Synthesizer ausreicht: einstimmig und den Chor nur unterstützend, indem ich tiefe Töne verwende, die von der menschlichen Stimme schon gar nicht mehr erreicht werden können. Um diese Kontraste geht es mir.
Was hoffst Du mit dieser Arbeitsform beim Publikum zu erreichen?
Ohne kitschig zu sein: Es geht um Melodien, um Harmonien, um Musik, die berühren kann. Wenn in einem ruhigen musikalischen Fluss plötzlich ein Moment kommt, der tief zielt, dann hat das viel mehr Kraft, als wenn man die ganze Zeit auf klischeehafte Emotionen setzt. Das würde sich ganz schnell abnutzen.
Der Arbeitstitel dieses Konzerts lautete »Erbarmen«. Welche Gefühlswelt machst Du damit auf?
Das ist alles todtraurig. Den Dirigenten, Klaas Stok, und mich eint eine melancholische Grundhaltung gegenüber der Welt. Das schien uns für dieses Konzert der richtige Ausdruck zu sein, um aktuell zu bleiben. Wir haben von Franz Liszt die zwölfte Station aus seiner »Kreuzweg«-Komposition im Programm, »Jesu stirbt am Kreuze«. Das ist eines der traurigsten Stücke, die ich jemals gehört habe. Auch wenn mit dem Gedanken von »Herr, erbarme dich« eine abstrakte Ebene aufgemacht wird, ist doch intuitiv klar, welche vielen und komplexen Krisen der Gegenwart damit eigentlich angesprochen werden. Dieses Thema zieht sich auch durch die ganze Kirchengeschichte, ist überhaupt ein religiöses Thema, weswegen es so viele sakrale Musikstücke darüber gibt.
Wie gehst Du damit um, solche emotionalen Gehalte digital zu produzieren?
Die Frage ist bei mir immer, ob es von vornherein meine Absicht war, emotional in eine bestimmte Richtung zu gehen, ob meine Geräte gewissermaßen ein Eigenleben haben oder ob die Stimmung in den Stücken selbst angelegt ist. Ich setze mich mit einer Vorstellung an die Maschine, die sich so nie umsetzen lässt: Die eigentliche Idee entwirft man ganz schnell in einem Moment, im Prinzip ersinnt man in einer halben Stunde, was umzusetzen dann Wochen und Monate dauert. Was mir immer wieder in den Sinn kommt, wenn ich mit Sänger:innen arbeite, ist der eigentlich verrückte Versuch, bei digital erzeugter Musik dem Computer Leben einzuhauchen – also Seele, Gefühl und auch ein bisschen Ungenauigkeit. Natürlich lieben wir es, Muster zu erkennen, aber wir benötigen die Ungenauigkeit innerhalb dieses Musters, damit es für uns interessant wird. Stumpfer Techno ist so wahnsinnig langweilig, weil es keine Ungenauigkeiten gibt, weil alles so exakt und hundertprozentig mathematisch sauber ist. Man trifft sich deshalb in der Mitte: Ich muss Ungenauigkeit in die Computermusik bringen und die klassischen Musiker:innen haben die Herausforderung, aus der Ungenauigkeit Genauigkeit zu erlangen. Das erzeugt dann plötzlich einen Moment, den es so vorher noch nie gab und der auf eine neue Weise berührt.
Stimming im Festival
, Pantheon Theater
Stimming & NDR Vokalensemble: The Wild Duck
NDR Vokalensemble, Stimming , Klaas Stok