Beim Beethovenfest 2022 kommt das Jugendorchester der Ukraine (YsOU) zu dem Festival, das bei seiner Taufe Pate stand. Vor fünf Jahren – und vor dem Krieg.
Ukrainisches Jugendsinfonieorchester
Ein Lacrimosa für Butscha-Opfer: Ukrainisches Jugendorchester spielt beim Beethovenfest
Sie heißen Nazar, Milana und Mark. Drei Musiker, drei Kriegskinder, drei Flüchtlinge.
Der 22-jährige Trompeter Nazar hat seine Familie in der Westukraine zurückgelassen. Der Perkussionist Mark kommt aus Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, die schon in ersten Kriegstagen heftig angegriffen wurde. »Wir haben schnell unsere Sachen gepackt und sind in den Westen gegangen«, erinnert sich der Achtzehnjährige. Milanas Heimatstadt ist Charkiw im Osten der Ukraine. Der Fluchtweg führte die zwanzigjährige Cellistin nach dem Kriegsausbruch über die Westukraine nach Berlin. Seit Anfang April sind die drei, neben 64 weiteren Musikerinnen und Musiker, wieder vereint: als Mitglieder des YsOU, des 2017 gegründeten Jugendorchesters der Ukraine. Am 29. August spielt das Orchester beim Beethovenfest in Bonn ein Solidaritätskonzert, ermöglicht durch Spenden der Unterstützerinnen und Unterstützer.
»Nach dem Kriegsausbruch haben wir uns eine titanische Aufgabe vorgenommen: das Orchester zu evakuieren und damit physisch zu retten, aber auch den jungen Menschen wieder eine berufliche Perspektive zu geben« – Oksana Lyniv
Die Gründung des YsOU geht auf die Initiative von Oksana Lyniv zurück, mittlerweile eine gefeierte Stardirigentin. »Da unser Orchester keine staatliche Finanzierung bekommt, sind für uns Auftritte wie dieser in Bonn eine unglaublich wichtige Unterstützung.«
»Im Orchester wieder spielen zu können war für mich die Rettung, ein Ausweg aus Verzweiflung und tiefer Frustration«, sagt die Cellistin Milana. »Seit wir wieder zusammen musizieren, kann ich wieder fast normal leben, atmen, lachen. Davor war ich wochenlang in einer Art Starre, einem Dauerpanik-Zustand.«
Alle Orchestermitglieder haben traumatische Kriegserfahrungen, mussten in Kellern ausharren, haben wochenlang nicht üben können. »Ich dachte fast, ich würde nie wieder ein Instrument spielen können«, gesteht Nazar.
Seit Anfang April proben junge Musikerinnen und Musiker wieder. Hinter dem Orchester liegt ein regelrechter Konzertmarathon von über 20 Auftritten – darunter bei den Ludwigsburger Festspielen, dem Bachfest Leipzig, den Münchener Opernfestspielen, beim Festival junger Künstler in Bayreuth, Young Euro Classic in Berlin und beim Festival in Luzern.
»Das sind alles wichtigste Stätten der klassischen Musik«, sagt Oksana Lyniv. »Dennoch ist der Auftritt in Bonn etwas ganz Besonderes: zuerst ist es eine einmalige Erfahrung für junge Musiker, in die Beethoven-Stadt zu kommen, dem Geburtsort von jenem Genie, dem wir die Orchesterkultur als solche zu verdanken haben. Zum anderen, weil wir auch an unseren Gründungsort zurückkehren.«, sagt Oksana Lyniv.
Orchestergründung beim Campus-Projekt 2017
Anlass der Orchestergründung war 2017 die Einladung zum Campus-Projekt des Beethovenfestes und der Deutschen Welle. »Auch deswegen ist für uns die Möglichkeit, wieder beim Beethovenfest zu spielen, tief symbolisch«, so Lyniv. Da ein Jugendorchester sich permanent erneuert, sind gerade mal zwei Musiker dabei, die bereits vor fünf Jahren in Bonn gespielt haben. Der Perkussionist Mark ist einer davon.
»Der damalige Auftritt in Bonn ist bereits eine Legende unseres Orchesters«, sagt Mark. »Nun kommen wir wieder – als Kulturbotschafter der Ukraine, unseres geliebten, leidenden Landes. Musik ist eben unsere Waffe.«
Nach Bonn bringen die Musiker:innen des YsOU ein besonderes Programm mit. Neben dem 3. Klavierkonzert Ludwig van Beethovens, interpretiert vom jungen ukrainischen Pianisten Dmytro Choni, werden Antonín Dvořáks 9. Sinfonie sowie die symphonische Ballade des ukrainischen Klassikers Borys Ljatoschynski »Grazhyna« erklingen, ein Werk nach der gleichnamigen Dichtung des polnischen Barden Adam Mickiewicz. Es feiert die mutige Heldin Grażyna, eine Art litauische Jeanne d'Arc, die ihr Volk im Kampf gegen den übermächtigen Feind anführt.
Besonderes Highlight des Abends ist die Uraufführung des Werkes der ukrainischen Komponistin Victora Poleva (Foto) »Butscha. Lacrimosa«. Unter dem schrecklichen Eindruck der zerstörten Ortschaft Butscha bei Kiew, wo von den Okkupanten unfassbare Gräueltaten an der Zivilbevölkerung verübt wurden, komponierte Poleva ein Stück für Violine (Solo: Andrii Murza) und Orchester.
»Es ist eine Betrachtung darüber, wie die Seelen der gefolterten, vergewaltigten, erschossenen Ukrainer zum Himmels steigen, wie Ströme«, sagt Poleva. »Die schreckliche Wunde von Butscha wird für immer in unseren Seelen bleiben. Dieses Werk zu schreiben war für mich die einzige Überlebensmöglichkeit. Die Asche von Butscha schwelt in meinem Herzen.«