Der finnische Geiger nimmt die Zügel selbst in die Hand: Er leitet das Mahler Chamber Orchestra von der Geige aus. Im Interview gibt er einen Vorgeschmack auf das Konzert am 23.9.2023 in der Aula im Universitätsschloss.
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1. Wer ist Beethoven für Sie?
Ich sehe Beethoven als Wendepunkt in Bezug auf das allgemeine Verständnis von Musik. Historisch gesprochen, denke ich, dass ein durchschnittlicher Zentraleuropäer vor Beethovens Zeit nicht viel über Revolution nachgedacht hat. Beethovens Musik hat mitgeholfen, das zu verändern. Ich finde diese Entwicklung vergleichbar mit dem Beginn des Rock’n’Roll. Etwas an Beethovens Persönlichkeit spielte auch mit hinein: Er hatte wenig Respekt für manche traditionelle Formen, er hatte kein Problem damit, alte Sachen in die Luft zu jagen. I selbst bin natürlich nicht so mutig wie Beethoven. Aber ich finde seine Gesellschaft sehr ermutigend, wenn ich das Gefühl habe, dass die Welt feststeckt, oder dass unsere Art des Musikmachens und Musikhörens eine gute Explosion braucht.
2. Was war Ihnen bei der Werkauswahl für das Konzert mit dem Mahler Chamber Orchestra wichtig?
Ich denke, das Programm möchte die Konzertkultur und die Konventionen des Konzerts neu denken. »Three Studies from Couperin« von Thomas Adès ist eine spannende Neubearbeitung von barocker Musik des französischen Komponisten Couperin.
Die »Abschiedssinfonie« von Haydn – nun, das Publikum heute kennt den Schluss. Alle wissen, dass das Orchester nach und nach die Bühne verlässt. Aber es ist noch immer eine außergewöhnliche, fast revolutionäre Erfahrung. Auch weil es politisch ist: Es ist die schönste Musik, die für die Rechte von Arbeitenden geschrieben wurde. Haydn wollte seinem Chef Nikolaus Esterházy mitteilen, dass die Orchestermusiker einen Urlaub verdient haben.
Missy Mazzolis »Dissolve, O my Heart« ist ein Kommentar über die d-Moll-Chaconne von Bach. Es ist nicht ganz so nah am Werk Bachs, wie das von Adès an Couperin. Aber die Idee ist dieselbe: Ein Element aus älterer und bekannter Musik zu nehmen und zu versuchen, es in neue Musik umzuformen. Ich denke, dass wir da in der Welt des klassischen Konzerts hinterherhinken, wenn man es etwa mit dem Theater vergleicht. Dort ist es ganz normal, die Klassiker neu zu bearbeiten und neu zu erfinden. Im Orchesterbetrieb erarbeiten wir Konzerte normalerweise in ein paar Tagen, da ist keine Zeit, zu improvisieren oder Dinge neu zu schreiben.
3. Beethovens Violinkonzert wurde sehr oft und von allen großen Geigern interpretiert. Was macht das Stück für Sie spannend?
Die Entstehung des Konzerts liegt ein bisschen im Dunkeln. Es ist keine definitive von Beethoven geschriebene Stimmausgabe der Solovioline überliefert. Es gibt von ihm eine handschriftliche Partitur, wo die Solostimme dabei ist. Als ich vor langer Zeit zum ersten Mal dieses Manuskript sah, war ich überrascht: Man sieht sofort, dass es an vielen Stellen mehrere Varianten der Solostimme gibt – manchmal drei, manchmal vier. Beethoven hat sie zu verschiedenen Zeitpunkten mit verschiedenen Federn geschrieben. Ich habe das Manuskript einige Jahre studiert, meine eigenen Lieblingsvarianten an solchen Stellen daraus ausgewählt und in meine Solostimme eingetragen. Ca. ein Zehntel des Konzerts wird etwas anders klingen, als das Publikum gewohnt ist.
Es ist ein bisschen riskant, diese Version aufzuführen. Denn ich will nicht irritieren. Ich will nicht behaupten, dass ich es richtig mache und andere Leute falsch. Aber im Zusammenhang dieses besonderen Konzertprogramms, wo es darum geht bestehende Musik neu zu fassen und die Konzertsituation neu zu erfinden, ist diese Beethoven-Version eine tolle Möglichkeit, sich zu erinnern, wie anders Aufführungen zu Beethovens Zeit waren. Damals waren Dinge wie Improvisation und die Form der Konzerte nicht wie heute. In gewisser Weise ist die handschriftliche Partitur Beethovens ein fantastisches Geschenk für Menschen, die erleben möchten, dass das Konzert immer noch lebendig ist.
4. Sie sind Künstlerischer Partner des Mahler Chamber Orchestras. Was ist das Besondere an der Zusammenarbeit mit diesem Orchester?
Das Mahler Chamber ist ein wirklich schönes Beispiel dafür, wie ein Orchester sich seinen Charakter über die Zeit hinweg bewahrt. Ich hatte nie das Glück, den Dirigenten Claudio Abbado kennenzulernen, der als Gründer des Orchesters gilt. Die Kolleg:innen im Orchester sagen, dass er den Geist von Freundschaft, die flexible, lächelnde und ziemlich abenteuerlustige Spielkultur aufgebaut hat, die heute das Wesen des MCOs bestimmt. Die Musiker:innen sind unheimlich begabt und versiert, aber es ist die ganz besondere Chemie im Orchester, wegen der es so viel Spaß macht, mit ihnen auf der Bühne zu stehen. Sie versuchen nicht cool zu sein, sondern warm, was ich wundervoll finde.
5. Wie ist es, ein Orchester als Solist und Konzertmeister zu leiten? Wie wirkt sich das auf Sie als Geiger aus?
Es wirkt sich sehr auf mein Spiel aus. Das Beethoven-Konzert, zum Beispiel, ist ein ziemlich langes Werk. Es erfordert, zumindest für mich, die Geige sehr elegant und mühelos zu behandeln. Ich möchte nicht, dass mein Spiel nach Anstrengung klingt, es soll fließen wie Wasser. Um das zu erreichen, ist es am einfachsten, entspannt und fokussiert auf die notwendigen Bewegungen zu bleiben. Aber wenn man ein Orchester leitet, muss man zu 50% zum Dirigenten werden. Das ist nicht immer ganz einfach. Aber ich liebe die unmittelbare Verbindung, wenn ein Orchester zuhört und aufmerksam bleibt und mehr Verantwortung übernimmt, wenn kein Dirigent da ist. Ich habe in letzter Zeit recht viel selbst als Dirigent gearbeitet. Eines meiner Hauptziele als Dirigent ist es, dieses Gefühl nicht verlieren, die Kammermusik zu bewahren.
Pekka Kuusisto im Beethovenfest 2023
, Universität Bonn, Aula
Mahler Chamber Orchestra & Kuusisto
OrchesterMahler Chamber Orchestra, Pekka Kuusisto
Beethoven, Adès, Haydn