Die Venezolanerin Gabriela Montero verbindet im Beethovenfest 2024 Musik über das Exil mit ihrer Improvisationsgabe. Christoph Vratz hat mit ihr über ihr Engagement für politische Freiheit in ihrer Heimat und weltweit gesprochen – und nachgeforscht, wie ihre Improvisation auf Charlie Chaplins Stummfilm »The Immigrant« funktioniert.
Schenkelklopfer finden hier keinen Platz. Wer sich nur kaputtlacht, hat nicht verstanden, dass es nicht immer etwas zu lachen gibt. Der große Charlie Chaplin bewies einen wachen Sinn für diejenigen in der Gesellschaft, die sich ausgegrenzt oder verloren fühlen, besonders in seinem Film »The Immigrant« von 1917. Ein Thema, das vor über hundert Jahren ebenso aktuell war wie heute. Kaum mehr als zwanzig Minuten dauert Chaplins entlarvende und doppelbödige Filmkomödie.
Die Frage, wie der Verlust von Heimat und die Suche nach Anerkennung in einer neuen Umgebung filmisch abgebildet werden kann, fasziniert die Pianistin Gabriela Montero immer wieder. »Das Thema ist heutzutage ein ständiger Begleiter: Wir sehen es in Russland, wir sehen es in Venezuela und in vielen Teilen der Erde.«
Im Konzert spielt Montero zu Chaplins Film, der für das Publikum im Saal gezeigt wird. »Ich habe einen kleinen Monitor vor mir stehen und werde zu den Bildern improvisieren.« Doch egal, wo sie damit auftritt: Jedes Mal klingt alles anders. »Ich habe keinen festen Plan, keine fixe Idee, auch nicht harmonisch. Ich reagiere immer sehr spontan auf die Bilder des Films, obwohl ich die Geschichte ja kenne. Es gibt darin so viele berührende Momente.« Sie liefert zum Bild eine zweite, simultan ablaufende Story, ihre persönliche Geschichte in Klängen. »Chaplin erzählt sehr klar, sehr direkt. Man spürt sofort die Stimmung, die er in den einzelnen Situationen vermitteln möchte, und darauf reagiere ich musikalisch.«
Gabriela Montero, die sich ihren Weltruhm als Pianistin vor allem mit ihren Improvisationen erspielt hat, erhebt gegen eine turbulente Weltlage entschieden ihre Stimme. »Auch wir Musiker:innen haben eine Aufgabe. Wir wollen die Menschen durch unsere Kunst beglücken, aber gleichzeitig sollten wir darauf aufmerksam machen, dass die Welt aus den Fugen gerät und unsere demokratischen Werte gefährdet sind.«
Die langjährige Wahl-Amerikanerin und dann Wahl-Spanierin, die bereits 2018 mit dem »Internationalen Beethovenpreis für Menschenrechte, Frieden, Freiheit, Armutsbekämpfung und Inklusion« ausgezeichnet worden ist, möchte die Konzertbühne allerdings »nicht zur politischen Arena umfunktionieren«. Abseits des Podiums hat sie bereits vor mehr als einem Jahrzehnt auf die Missstände in ihrem Herkunftsland Venezuela kritisch hingewiesen, doch »heute sind die Probleme globaler und damit dringender. Wir Menschen suchen immer nach Lösungen. Die Suche nach einem moralischen Kompass gewinnt dabei zunehmend an Bedeutung.«
Montero, die für ihre umsichtig kuratierten Programme bekannt ist, stellt der Improvisation über Chaplins Film Werke dreier russischer Komponisten gegenüber, die alle – aus unterschiedlichen Gründen – ihre Heimat verlassen haben: Sergei Prokofjew, Igor Strawinsky und der 1917 emigrierte Sergei Rachmaninow, der nie wieder aus seinem Exil nach Russland zurückkehren sollte. »Auch diese Komponisten haben sich bereits die großen Fragen des Lebens gestellt und in ihrer Musik ihre eigene Rolle innerhalb der Welt reflektiert«, so Montero. »Die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Umstände haben ihre Sprache, die Sprache der Musik, wesentlich beeinflusst, und das macht diese Werke so spannend.«