Den katalanischen Komponisten Ferran Cruixent beschäftigen die großen Themen: etwa die Technisierung unserer Umwelt und Existenz, für die er in seiner Musik überraschende Entsprechungen findet, oder die spirituelle Durchdringung des Lebens. Für das Sitkovetsky Trio, das Residenz-Ensemble des Beethovenfests 2024, hat Ferran Cruixent ein neues, großes Werk für Klaviertrio und Orchester komponiert. Ein Gespräch über die Faszination des klingenden Alltags, Handys auf dem Konzertpodium und die »kosmotheandrische« Weltsicht.
Beginnen wir mit Ihrer Geburtsstadt Barcelona – eine der meistbesuchten Städte Spaniens, traditionelle Arbeiterstadt, einst Hauptstadt des Anarchismus, heute des katalanischen Separatismus. Welchen Einfluss hat die Stadt auf Sie als Künstler und Mensch?
Die Stadt ist natürlich eine Inspirationsquelle für mich. Man wird dort geboren, die Sprache und das Klima bestimmen die Menschen. Man sagt ja, dass die Katalanen die Schwaben von Spanien seien: Wir sind sehr tüchtig und sehr pünktlich – sicher ein Grund dafür, dass ich mich bei meinem Studium in Deutschland sehr wohlgefühlt habe [lacht].
Spielt denn die wechselvolle Geschichte Ihres Landes für Ihre Musik ein Rolle?
Eigentlich nicht, das wäre für mich eine zu enge Perspektive. Ich beobachte lieber die Menschen im Allgemeinen, ohne mich auf eine Nation zu beschränken. Mich interessieren die Werte, die uns als Menschen vereinen. Und ich finde, dass die Konzentration auf das Nationale letztlich vom Wichtigsten im Leben ablenkt: die Liebe, der Verstand, das Spirituelle.
Aber jede Stadt hat natürlich ihren eigenen Klang. Ich habe ein absolutes Gehör, und damit habe ich schon als Kind die Umgebung von Barcelona musikalisch wahrgenommen: das jaulende Glissando der U-Bahn, wenn sie in die Station einfährt, den Dopplereffekt einer Polizeisirene. Daraus habe ich dann bei meinen Improvisationen Melodien gemacht. Oder ich erinnere mich, dass ich bei einem Konzert mit dem Klavierhocker nach hinten gerutscht bin, was so ein quietschendes Geräusch macht. Das habe ich dann spontan mit Akkorden aufgefüllt – und dann erst Beethovens Sonate op. 111 gespielt. Später habe ich in Basel und in der Fundació Miró ein Projekt über den Stadtklang von Barcelona vorgestellt, unter dem Titel »Urban Surround«.
So richtig bewusst war mir als Kind natürlich nicht, was ich da mache. Aber meine Eltern haben offenbar ein besonderes Potenzial gesehen und mir eine Musikausbildung am Konservatorium ermöglicht. Sie haben nie verlangt, dass ich einen Beruf ergreife, nur um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sie haben mir im Gegenteil erlaubt, meinen Traum zu leben. Ich konnte mein Leben der Musik widmen, ganz ohne Druck – das war in unserer Gesellschaft eine Ausnahme!
Dennoch: kein Traum ohne harte Arbeit – so hat man das offenbar auch am Konservatorium in Barcelona gesehen …
In der Tat, das Studium war sehr streng. Meine Klavierprofessorin Carmen Vilà hat einen internationalen Ruf und ist befreundet mit berühmten Leuten wie Zubin Mehta, Daniel Barenboim oder Alfred Brendel. Sie ist eine Spezialistin für Wiener Klassik, aber auch für Rachmaninow; und ihr Unterricht hatte nichts Mechanisches, sondern es wurde wirklich Musik gemacht. Parallel dazu musste ich aber noch Musiktheorie, Harmonielehre, Kontrapunkt, Fuge, Violine und Gesang studieren – ein hartes Pensum!
Welchen Stellenwert hat denn die klassische bzw. zeitgenössische Musik in der katalanischen Gesellschaft?
Derzeit erlebt die neue Musik in Katalonien und Spanien einen großen Aufschwung. Vielen Komponist:innen wird die Möglichkeit geboten, mit den wichtigsten Konzerthäusern der Stadt zusammenzuarbeiten. Was klassische Musik betrifft, gibt es ein riesiges Musikprogramm mit internationalen Künstler:innen. Aber natürlich kann man das nicht vergleichen mit der katalanischen Leidenschaft für Fußball oder andere Sportarten ... naja, das ist aber überall so, glaube ich.
Ihren ersten intensiven Kontakt mit zeitgenössischer Musik hatten Sie bei Ihrem Studium bei Dieter Acker an der Münchner Musikhochschule. Was bedeutet »neue Musik« heute für Sie?
Ich habe in München übrigens auch Filmmusik studiert – aber das war mir dann stilistisch zu plakativ, und man hat viel weniger Freiheiten als bei der Konzertmusik. Für mich hat heute komponierte Musik auf einer philosophischen Ebene die Aufgabe, die Aspekte der Gesellschaft zu zeigen, die durch das hektische Tempo des Lebens, dem wir ausgesetzt sind, verdeckt werden. Das bedeutet für mich eine Art Suche nach den tiefsten und spirituellsten Dimensionen im Menschen – daneben aber auch ein klares Bekenntnis zum Moment, in dem wir gerade leben. Kunst muss engagiert und irgendwie auch visionär sein. Aber auch attraktiv! Für mich ist Musik eine Möglichkeit, die Gesellschaft zu verstehen und, sagen wir: Kanäle für ein psychologisches und menschliches Verständnis zu öffnen.
Sie betonen gern die spirituelle Seite von Musik. Andererseits haben Sie ja ein ausgesprochenes Interesse für moderne Technologien – Stichwort: »Cybersinging«. Wollen Sie die Musiker:innen zu Avataren machen?
Nicht ganz – aber ich interessiere mich einfach sehr für die Beziehung zwischen Mensch und Technik. Durch Technik haben wir die Medizin verbessert – mein Vater konnte dadurch nach einem Hirnschlag geheilt werden –, und letztlich ist das Smartphone eine Erweiterung unseres Gehirns. Ich habe überlegt, wie man das in der Musik abbilden kann. Beim »Cyber-Gesang«, den Sie erwähnt haben, verwenden die Interpreten ihre eigenen Mobiltelefone, um von mir vorbereitete Audiodateien abzuspielen. Ich halte das für eine neue Möglichkeit der Interaktion zwischen Interpret und Komponist jenseits der Partitur.
Einen großen Einfluss hatte auf mich das »Cyborg Manifesto« der US-amerikanischen Feministin und Philosophin Donna Haraway. In meinem sinfonischen Werk »Cyborg« habe ich 2009 zum ersten Mal versucht, das klassische Orchester in ein Cyberorchester zu verwandeln. Mit dem »Cybersinging« werden die Klangmöglichkeiten des Orchesters unendlich erweitert. Damit kehre ich im Grunde zu dem Spiel zurück, das ich als Kind gespielt habe, als ich in meiner Fantasie urbane Technologieklänge mit Harmonie vermischt habe. Das ist für mich immer eine poetische Welt, die durch die Mischung von traditionellen Musikinstrumenten und Smartphones entsteht, also von alter und neuer Technologie.
Auch in Ihrem neuen Stück für das Sitkovetsky Trio spielen Smartphones eine wichtige Rolle. Der Titel »Trinity« bedeutet so viel wie Dreieinigkeit – ein Begriff, den man am ehesten mit der christlichen Religion verbindet. Sind Sie ein religiöser Mensch?
Nein, ich betrachte mich als zutiefst spirituell und lebensverbunden, aber ich brauche keine Religion, um die spirituelle Dimension des Menschen zu verstehen. »Trinitiy« spielt mit verschiedenen Assoziationen. Wir haben drei Solisten, und wir haben drei Sätze. Darüber hinaus ist das Werk inspiriert von Texten des hindu-katalanischen Philosophen Raimon Panikkar. In seiner trinitarischen Vision der Realität, die er »kosmotheandrisch« genannt hat, vereinen sich Kosmos, Gott (Theos) und Mensch (Andros), alles ist voneinander abhängig und nicht ohne das jeweils Andere zu denken. Die Realität, in der wir leben, besteht also für Panikkar aus einer spirituellen Dimension, einer kosmischen und einer menschlichen. Nur durch die Annahme dieser Werte kann es echte Demokratie unter den Menschen geben, die einen gegenseitigen Respekt fördert, der uns erhebt. Damit interpretiere ich im Konzert für Klaviertrio und Orchester auf meine Weise das Motto ›Miteinander‹ beim diesjährigen Beethovenfest.
Wie äußert sich dieses Miteinander in der Partitur?
In jedem der drei Sätze habe ich mich auf eine der von Raimon Panikkar erwähnten Realitäten konzentriert. Der erste Satz mit dem Titel »Vidi Aquam« (Ich sah Wasser) versetzt uns in die Mystik und Ekstase des Göttlichen, gekennzeichnet durch minimalistische Zellen und Harmonien, die eine liturgische und ätherische Welt heraufbeschwören. Er ist inspiriert vom gregorianischen Choral »Vidi aquam« in der katholischen Pfingstmesse und dem hinduistischen Mantra »Om Vam Varunaya Namah«. Da gibt es verschiedene ›Wasserklänge‹, etwa die Digitalklänge vom Handy, die ich programmiert habe, aber auch Motive des Klaviers oder der Violine, die für mich wie Wasser herabfließen.
Der zweite Satz, »Cosmic Beethoven«, führt uns zu einer kosmischen Vision der Realität, mit nostalgischen Echos und Resonanzen, die vom Cellothema im langsamen Satz aus Beethovens »Tripelkonzert« ausgehen. Der dritte Satz, »Wild Rondo«, ist tatsächlich ein virtuoses Rondo, wild, irdisch und frenetisch – das Abbild einer Welt, die uns immer mehr von der Idee der Dreieinigkeit wegführt. Der gesamte Satz basiert auf einem engen Drei-Noten-Motiv, das die menschliche Suche nach der Dreifaltigkeit symbolisiert. Am Schluss mündet er in einer großen Abschlussfeier.
Die Uraufführung von Ferran Cruixent im Festival 2024
, Oper Bonn
hr-Sinfonieorchester & Sitkovetsky Trio
hr-Sinfonieorchester, Sitkovetsky Trio, Ivan Repušić
Pejačević, Cruixent, Dvořák