Beate Angelika Kraus, Musikwissenschaftlerin am Forschungszentrum »Beethoven-Archiv« des Beethoven-Hauses Bonn, ist Herausgeberin der neunten Sinfonie im Rahmen der wissenschaftlich-kritischen Neuen Gesamtausgabe der Werke Beethovens. Am 7. Mai 2024 feierte die Musikwelt den 200. Jahrestag der Uraufführung der Neunten. Unsere Jubiläumsaufführung durch das Bundesjugendorchester spiegelt den neuesten Stand der Forschung wider – hier geht es auch um die besondere Geschichte hinter dieser Aufführung.
Am Auftrag vorbeikomponiert?
Heute ist Beethovens neunte Sinfonie weltberühmt und wird selbstverständlich von allen Orchestern und Chören aufgeführt. Das war nicht immer so, und es dauerte lange, bis sie den Weg ins Musikleben fand. Beethoven schrieb die Neunte als Auftragskomposition für die Philharmonic Society in London. Dort erwartete man natürlich ein reines Instrumentalwerk. Als die Partitur schließlich 1824 in England eintraf, muss die Überraschung groß gewesen sein: Von der Dimension her war die Komposition doppelt so umfangreich wie üblich und hatte einen Finalsatz mit Chor und Gesangssolist:innen. Als Text verwendete Beethoven Teile eines im deutschen Sprachraum überaus populären Gedichts von Friedrich Schiller: »An die Freude« war seit 1786 sehr oft nachgedruckt worden und es existierten bereits rund 30 Vertonungen. Beethoven machte daraus aber etwas ganz Neues – schon die Auswahl der Strophen gab seinem Werk einen anderen Sinn. »Kundenorientiert« war seine Komposition für ein britisches Publikum sicherlich nicht, und so wurde dort die Neunte zunächst mit Text in italienischer Sprache aufgeführt. Auch nicht gerade ein Zeichen korrekten Verhaltens: Nachdem Beethoven sein Honorar aus England erhalten hatte, fand noch vor dem Konzert in London die Uraufführung der Neunten am 7. Mai 1824 in Wien statt.
Relaunch eines Kompositionsauftrags
Im Jubiläumskonzert der Neunten beim diesjährigen Festival wird Tan Dun das Bundesjugendorchester und den World Youth Choir mit seinem neuen Werk »Choral Concerto: Nine« dirigieren. Auch diese Komposition ist ein Auftragswerk, und zwar von vier Organisationen: dem Deutschen Musikrat, der Beethoven-Jubiläumsgesellschaft BTHVN2020, der Royal Philharmonic Society und dem Melbourne Symphony Orchestra. Der in New York lebende chinesische Komponist und Dirigent stellt sich damit in die Tradition Beethovens und verarbeitet die neunte Sinfonie, übrigens u. a. für denselben Auftraggeber (die 1813 in London gegründete Philharmonic Society wurde mit ihrer 100. Konzertsaison 1912 unter die Schirmherrschaft des britischen Königshauses gestellt und in Royal Philharmonic Society umbenannt).
Neue Forschungsergebnisse im Konzert
Beethovens Neunte und das Bundesjugendorchester haben eine besondere gemeinsame Geschichte – und immer war das BJO dabei gleichsam an vorderster Front. Bereits vor zehn Jahren flossen die ersten Forschungsergebnisse, die sich in meiner Arbeit an der Edition der Neunten für die Neue Gesamtausgabe am Beethoven-Haus ergaben, in ein Konzert des BJO in Bonn ein.
In der Partitur, die Beethoven im Januar 1825 als Stichvorlage an seinen Verleger geschickt hatte, entdeckte ich eine handschriftliche Notiz des Komponisten: »von hier an Siehe den ContraFag. in der Beylage«. Das ist ein Verweis Beethovens auf eine »Beilage« für eine Kontrafagottstimme, die in keiner der bekannten Partituren ausnotiert ist. Die »Beilage« ist leider nicht erhalten, aber natürlich machte ich mich auf die Spurensuche. Das Ergebnis: Beethoven hat in sechs Stadien, auch nach der Uraufführung, die Rolle dieses damals im Orchester noch neuen Instruments entwickelt! Am Ende war das Kontrafagott viel mehr als nur ein Instrument für Spezialeffekte; es erhielt seine eigenständige Stimme in der Bläsergruppe. Diese Stimme habe ich rekonstruieren können, denn wir kennen eine handschriftliche Vorlage dafür (siehe Bild oben) und die gedruckte Fassung von 1826 (siehe Bild unten). Nun darf das Kontrafagott mitspielen, wenn der Solo-Bariton das erste Mal die Freudenmelodie anstimmt.
Als das BJO am 30. Juli 2014 in Bonn die Neunte aufführte, gab ich dem Kontrafagottisten die von mir rekonstruierte neue Stimme – und er spielte sie erstmals öffentlich. Die »neuen Töne in der Neunten« wurden von der Kritik sofort positiv vermerkt. Als die neunte Sinfonie als Jubiläumsband der Beethoven-Gesamtausgabe im Februar 2020 erschien, war das Interesse groß: Der Deutsche Musikrat machte es möglich, dass ich die neue Ausgabe in einem Online-Seminar für das BJO und den World Youth Choir vorstellte, und so haben wir mitten im Corona-Lockdown rund um den Globus über den Notentext, die Quellen und die Entstehungsgeschichte diskutiert. Diese jungen Musikerinnen und Musiker führen nun beim Beethovenfest Bonn 2024 die neunte Sinfonie nach der neuen Ausgabe auf – für mich eine besondere Freude!
Übrigens: Bei der Wiener Uraufführung 1824 waren die 18-jährige Sopranistin Henriette Sontag und die 20-jährige Altistin Caroline Unger die Solistinnen; das Wiener Publikum kannte sie schon durch Rossinis Opern. Die Sänger Anton Haizinger und Joseph Seipelt waren mit 28 und 36 Jahren nur wenig älter. Beethovens neunte Sinfonie war und ist ein Werk gerade für junge (und jung gebliebene) Menschen, die sich immer wieder überraschen lassen – auch von neueren Entwicklungen in der Musikgeschichte!