Vor 200 Jahren erklang erstmals die epochale Neunte. Doch wie funktioniert eigentlich Beethovens Komposition? Welche besonderen Momente können wir als Hörer:innen in der Sinfonie entdecken? Bennet Eicke, Dirigent und Musikwissenschaftler, nimmt Sie mit auf eine Hörreise. In Vorbereitung auf das Konzert beim Beethovenfest 2024 – oder, falls Sie keine Tickets mehr bekommen haben, einfach zum Eintauchen in das Jubiläumswerk.
Unerbittliche Freude
Puls und Dramaturgie in Beethovens neunter SinfonieEs ist immer schwer, sich in die Situation hineinzuversetzen, etwas zum ersten Mal gehört zu haben – insbesondere, wenn es um ein Werk monumentaler Strahlkraft wie Beethovens neunter Sinfonie geht. Als Europahymne steht dem »Freude, schöner Götterfunken« ein fester Platz in unserem Alltag zu. Umso wichtiger ist es, sich beim Hören immer wieder in die Sitzplätze des Wiener Kärtnertortheaters im Mai 1824 zurückzuversetzen und die Bedeutung des letzten Satzes mit dieser Hymne im Kontext des ganzen Werks zu verstehen.
I. Satz
Das fängt bereits im ersten Takt an: Da klingt eine Hornquinte (zwei Hörner mit einem offen wirkenden Zusammenklang), darunter ein bebender Rhythmus in den Streichern – wie ein Urlaut. Im ersten Satz herrscht Puls, kleine rhythmische Motive (ein prägnantes ›kurz-lang‹), die sich zu einem Größeren ordnen und ins Dramatische herausbrechen.
So ergibt sich der große Prozess aus dem Kleinen – die musikalischen Themen sind Zellen, aus denen Beethoven Übergänge baut und von einem Punkt in den nächsten überleitet. So auch in die zweite für sich stehende melodische Gestalt des Satzes, genannt Seitenthema. Es wird nur durch die Aufteilung auf verschiedene Instrumente als ›Melodie‹ erkennbar.
Oder in der Durchführung, wie man den mittleren, turbulenten Abschnitt des ersten Satzes nennt, in dem Beethoven einen Teil des Anfangsmotivs in einer atemberaubenden Fuge mit beißendem Puls in die Wiederkehr des ersten Themas überleitet – klingt hier etwa Dur? Spannendes passiert hier in jeder beteiligten Stimme: Celli und Bässe dreschen bei jenem großen Höhepunkt die bedeutende Dur-Terz in den Klang hinein. Also jenen Ton, der am Beginn des Satzes dem Akkord ganz fehlte und ihn daher zwischen Dur und Moll unentschieden schweben ließ. Das Dur währt jedoch nicht lange, der Friedensschluss lässt noch auf sich warten.
II. Satz
Im zweiten Satz, genannt Scherzo, bricht der Puls wie eine unaufhaltsame Macht herein, nur um sich dann aus kleiner Zelle in ein mächtiges Orchester-Tutti zu entwickeln. Hier zeigt sich der spielerische Beethoven – er spielt mit den Verhältnissen der Taktstrukturen (von vierzählig zu dreizählig und zurück) und nimmt den Zuhörer:innen den sicheren Grund unter den Füßen.
Der Puls bleibt auch, wenn Beethoven in das zweite Thema überleitet – oder besser gesagt sich überschlagend hineinstürzt.
Die letzte Überraschung wartet am Ende, wo er einen längeren Abschnitt erwarten lässt, nur um abzubrechen und einen ›kürzeren‹ Ausweg zu finden.
III. Satz
Das Momentum Puls findet sich auch in den wärmsten Tönen des dritten, langsamen Satzes. Zwei simple Melodien wechseln sich ab und werden nach und nach durch Variationen geführt – gleich bleibt allerdings der Puls, bei schnelleren Notenwerten. So wird der Wald dichter, obgleich nie hektisch – was dem vierten Horn gut entgegen kommt, wenn es in diesem Satz seine glänzenden Solomomente hat. Es spielt sanft begleitet von Klarinetten und Flöten.
IV. Satz
Und in dieses Idyll bricht der vierte Satz herein wie eine Urgewalt – gewalttätig und entschieden. Celli und Bässe melodieren, ein Sängerrezitativ ohne Sänger! Das Orchester antwortet mit Rückblicken auf alle bisherigen Sätze, inklusive eines kleinen Vorgeschmacks auf das, was da jetzt kommt. Und aus dem Nichts entsteht dann dieses so bekannte Thema, anwachsend ins ganze Orchester herein, um im Triumph der Dramatik zu weichen.
Zur Freude braucht es wohl Text – der Solo-Bariton feiert endlich seinen Einsatz: »Oh Freunde, nicht diese Töne«, und der Chor stimmt ein »Freude, schöner Götterfunke«.
Es entspannt sich ein kleines Oratorium innerhalb der Sinfonie mit einem Prozess bis zum Ende, alles zwischen Luft und Erde: Da wird es sphärisch (»Such’ ihn überm Sternenzelt«), es wird euphorisch (Doppelfuge, also eine Fuge mit zwei verschiedenen Themen gleichzeitig), es wird zum Schluss die ganze Welt umarmt.
Mein liebster Moment dabei – wie Beethoven alles mit »vor Gott« an die Wand laufen lässt und in diese erwartungsvolle Stille mit Kontrafagott und Schlagwerk ein ›alla Marcia‹, also einen Militärmarsch anschlägt, ist ein grandioser Stimmungswechsel. Wenn aus diesem derben Freudengesang sich eine beißend pulsierende Fuge entwickelt und sich im abermaligen Höhepunkt mit Chor entlädt, müssen wir nach einer Generalpause wohl ›andere Töne‹ anspielen.
Beethoven erkämpft sich unerbittlich mit jedem Ton die Freude, in Wort und Chor dadurch umso feierlicher. Kein Wunder, dass es die Komponist:innen hiernach schwer hatten, noch eine Sinfonie zu schreiben.
Beethovens Neunte im Festival 2024
, Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin
Sonderkonzert Berlin: Beethoven 9
Bundesjugendorchester, World Youth Choir, Jörn Hinnerk Andresen
Dun, Beethoven
, Bonner Innenstadt
Eröffnungsfest: Bühne frei für Beethoven
Schüler:innen und Laien aus Bonn und der Region, Bundesjugendorchester, World Youth Choir