»Das war ein unglaublich starker Moment. Einer der stärksten Momente meiner Karriere.« – Benedikt Kristjánsson

Benedikt Kristjánsson ist ein Sänger ohne falsche Eitelkeit. Der Tenor geht in die Extreme, dahin, wo er den Sänger in sich zurücklässt und zum existenziell Menschlichen Vordringt. Mit drei Projekten bestritt der Isländer eine Residenz beim Beethovenfest, die seine Handschrift trug und sein Streben nach Wahrheit im Ausdruck eindrucksvoll demonstrierte.
Das zentrale Projekt, eigens konzipiert für das Beethovenfest 2022, dachte die Idee von Schuberts Winterreise konsequent zu Ende: »Winterreise perpetuum.«
Die Grundidee der Performance »Winterreise perpetuum«: Die Winterreise von Franz Schubert in Dauerschleife, als 24-Stunden-Performance. Jedoch machte eine Fußverletzung Kristjánsson einen Strich durch die Rechnung. Er entschloss sich, die geplanten 24 Stunden Dauergesang durch eine Schlafpause in der Nacht zu unterbrechen. Dennoch blieb die Performance ein beispielloser Kraftakt.
»Gestern habe ich neun Stunden lang im Spielort eins gesungen. Um diese Zeit [ca. 4:30 Uhr] waren alle Zuhörer:innen gegangen. Dann schlief ich ein paar Stunden und jetzt bin ich zurück am Spielort zwei, wo ich komplett allein anfangen werde zu singen, bis die ersten Leute zum Konzert erscheinen.« Kristjánsson am 11.9.2022, am zweiten Tag der Performance
Wer nochmal Genaueres über Ablauf und Idee der Performance nachlesen möchte, kann dies in unserem Magazinartikel tun.
Mit besonderer Spannung erwartete Kristjánsson die Reaktionen des Publikums während der Performance. Denn die radikale Darbietung eines Zyklus als endloses Kreisen setzt die Zuhörer:innen der ungewohnten Erfahrung aus, sich aktiv zur Performance verhalten zu müssen. Kristjánsson erzählt, wie er den Moment erlebt hat, als der erste Konzertdurchgang der Winterreise an sein Ende kam und er nahtlos das erste Lied wieder anstimmte:
»Nach der letzten Note fühlt man das Bedürfnis des Publikums zu klatschen. Und diesen Moment zu zerstören, indem ich wieder anfange zu singen, war wirklich atemberaubend stark. Denn man gibt dem Publikum einfach keine Möglichkeit, Atem zu holen… diese Irritation, dass das Publikum plötzlich genötigt ist selbstständig aufzustehen und den Raum zu verlassen und sozusagen eine Szene zu machen, und wie dann mehr und mehr Leute gegangen sind – das war ein unglaublich starker Moment. Einer der stärksten Momente, den ich in meiner Karriere je gehabt habe.«
Wie viel es ihm mit Krücken und verstauchtem Fuß abverlangte, stundenlang und allein im Becken des Viktoriabads zu singen, lässt sich auf den Fotos des Abends erahnen. Die Atmosphäre wurde auch beeinflusst durch den Umstand, dass parallel zur Performance die Party »Chin Chin Yeah« mit Silent-Disco im kleinen Becken des Viktoriabads stattfand.
»Ich fühlte mich wie ein Tier im Zoogehege, und die Leute außenherum feiern eine Party und sagen ›Schau mal der Typ da‹. Das Gefühl war total anders.«
Nach gut neun Stunden, um ca. 4:30 Uhr früh, unterbrach Kristjánsson seine Performance. Seine Schmerzen im Fuß wurden zu stark. Zu dieser Zeit waren noch immer zwei Personen im Zuschauerraum. Am nächsten Tag sang er den Nachmittag über im zweiten Konzertort, der Kleinen Beethovenhalle, weiter die Winterreise… Bis zum letzten Durchlauf am Abend mit Pianist Fabian Müller, wo er nochmals alle Kraftreserven mobilisierte und eine ergreifende Version gelang.
Kristjánsson kann sich vorstellen, auch in Zukunft eine ähnliche Performance zu machen – diesmal vielleicht über einen kürzeren Zeitraum, damit die Zuhöhrer:innen die ganze Zeit dabei sein können.
JUDAS: misunderstood antagonist of the passions
Judas Iskariot, der Verräter Jesu? Für Benedikt Kristjánsson ist er ein vielschichtiger Mensch wie wir alle. Sein zweites eigens für das Beethovenfest 2022 konzipiertes Projekt, der Konzertabend JUDAS, erforschte die Zwischentöne dieser Figur, ihre Widersprüche und Motivationen. Dazu stellte Kristjánsson Arien aus verschiedenen Kantaten Johann Sebastian Bachs in Dialog mit Exzerpten aus Amos Oz' Roman Judas. Zusammen mit den Instrumentalist:innen Clara Blessing (Oboe), Nadja Zwiener (Violine), Elina Albach (historische Tasteninstrumente), Liam Byrne (Viola da Gamba) und Philipp Lamprecht (Percussion) entstand eine individuelle Lesart einer archetypischen Figur. Das Viktoriabad bot auch für dieses Projekt den offenen Raum.
Johannespassion zu dritt
Vielleicht das Projekt, das Benedikt Kristjánsson endgültig zum Durchbruch verhalf: Johann Sebastian Bachs Johannespassion für Solist und zwei Instrumente allein. Die Bearbeitung ging auf die Konzeption von Steven Walter zurück und entstand in enger Zusammenarbeit mit Cembalistin Elina Albach und Perkussionist Philipp Lamprecht. Sie ist geboren aus der Situation des ersten Corona-Lockdowns. Zu Ostern 2020 durften keine Konzerte stattfinden, die traditionellen großen Aufführungen der Passionen Bachs wurden abgesagt.
Die damals per Livestream übertragene Johannespassion für Tenor, Tasteninstrumente und Schlagwerk mit drei Musiker:innen und per Zoom zugespielten Chorälen von Bachchören weltweit berührte die Herzen.
Auch beim Beethovenfest 2022 entwickelte die Johannespassion mit den drei Musiker:innen Benedikt Kristjánsson, Elina Albach und Philipp Pamprecht in der Kreuzkirche Bonn eine überwältigende Wirkung. Die Choräle wurden in dieser Aufführung vom gesamten Publikum gesungen, so wie zu Zeiten Bachs im Gemeindekontext. Historische Aufführungspraxis, die den Geist der Musik lebendig macht, sich aber von der sklavischen Befolgung des Buchstabens löst.