Am Sa 9.9. wird das Violinkonzert »Tipping Points« im Beethovenfest aufgeführt. Die Komponistin Rachel Portman schrieb es als musikalische Reaktion auf die gleichnamige Dichtung von Nick Drake. Hier finden Sie das Gedicht sowie die Erläuterungen von Nick Drake und von Rachel Portman zum neuen Werk.
»Tipping Points«
INVOCATION
Things change, always. A book of mutability
written in dream time. All mortals know the story
as we become it, and are transformed
like bright leaves on a generation tree
through air, water, fire, then home to earth –
everything becoming something else,
a rock a tree, a child a bird, a wave
a long-lost song… But something’s wrong.
Rivers turn to stone. Air catches fire.
Heatwaves have names. The birds have disappeared.
Our spooked hearts beat now to a stranger drum.
A different sound sings through everything…
AIR
First breath, first cry. First song on the wing.
Conjurer of secret atmospheres, ghost
medium of light and shadows and dark.
Transmission of our signals and alerts,
are you receiving me, over, over…?
Silence of clouds and cloud forests.
A billion rush hour cars exhaust themselves,
gridlocked with music and the ceaseless news…
Some nights the air smells of chocolate.
Others of chemicals. It’s hard to breathe.
What we hold for now but not forever.
What we give away to set words free –
WATER
Simple spell conjuring a new green world.
Made of the mist. Rain forest’s dream.
Clouds in their own time. Ice holding slow time.
The charm of snow, here and now and gone.
Sea’s ebb and flow. River’s ever-running mirror.
The glass urn full. The necessary rain.
The vanished rain. Lakes wasted to dust
and dead bikes. Parched parks. Death Valley flooded.
An ice cube’s tiny arctic in your drink going,
going like the ancient shields of ice…
The enchantment of water still sings on
in its wavering wheel. In this planet’s perfect blue.
FIRE
Air catches fire. Dark descends. Red light.
War music turned up beyond full volume.
Lawns ignite. Houses explode. Trees
scream like firecrackers, like banshees.
Anthracite in no time, not millennia.
The forest a mass grave. A requiem
of silence mourning for the ruined green.
Habitat. Sanctuary. Arcadia.
Family photos. Clothes. A place called home.
Past, present, future, all burned down.
Nothing to see here for a long, long time.
We’re losing the family of things.
EARTH
Light wind in the wildwood conjuring
myriad hidden voices. Rings of time
recorded in every tree. In each still lake.
The secret wiring of mycelium
transmitting songs beneath the forest floor.
Old growth. Primeval. Taiga. Enchantment’s home
clear-cut to the geometry of mass-farms.
Plantations. Corporations. Extinctions. Blight.
The tipping point of the heart is when it breaks -
and then the disenchanted light that dawns.
Voices in the wildwood calling out:
The time is now to make peace with the earth.
EPILOGUE
Change things. The book of mutability,
of time and mystery, is never-ending.
Light a candle, let each bud of grief
illuminate the dark. But then look up.
A sign in a shop reads: If you break it,
you fix it. Sing the future’s story.
Chant the oceans back to their deep pulse.
Recall the broken rivers so they heal.
Hum the chimneys of the power plants to sleep.
Whisper the forests until they rise again.
It’s now or never. Re-enchant the earth.
Sing it back and forward. Raise your voice.
Über das Gedicht »Tipping Points«
Die sechs Gedichte »Tipping Points« (»Kipp-Punkte«) entstanden aus einem Gespräch zwischen Rachel Portman und mir über die vier Elemente. Erde, Wasser, Luft, Feuer. Viele antike Kulturen erklären die Natur, die Komplexität und die Vernetzung des Universums sowie den Wandel (oder die Metamorphose) mit ähnlichen Begriffen. Für uns sind die Elemente auch heute in der Klimakrise Anknüpfungspunkte.
»Invocation« beginnt mit den Worten: »Dinge verändern sich.« In dem Gedicht geht es um Veränderung – den immerwährenden Wandel der Evolution, aber auch um die konfrontativen, verzweifelten Veränderungen, die in unserer Zeit und in der Natur stattfinden.
»Luft« handelt von dem Wunder dieses Elements, von unserer eigenen Atmung bis zur Atmosphäre, die uns alle trägt. Es geht auch um die Verschmutzung dieses Wunders.
»Wasser« befasst sich mit der absoluten Notwendigkeit des Elements für jegliches Wachstum – und mit den massiven Wasserproblemen, die die Welt angesichts der Erwärmung und der immer extremeren Klimaverhältnisse erlebt.
»Feuer« erinnert an die Verwüstungen der australischen Buschbrände 2019/20. Während ich schrieb, färbte der Smog der kanadischen Buschbrände den Himmel über New York City orange.
»Earth« feiert den Zauber der Natur, thematisiert aber auch die katastrophalen Zerstörungen, welche die Ausbeutung durch die Agrarindustrie anrichtet.
»Epilogue« stellt die Anfangsworte der »Invocation« auf den Kopf: »Ändere die Dinge .« Dies ist die zwingende Herausforderung, vor der wir als Einzelne, als Gemeinschaften und als gesamte Menschheit stehen.
Wir befinden uns an mehreren Kipp-Punkten. Wie können wir die Erde wieder verzaubern? Wie können wir wieder in Verbindung zueinander treten, wenn sich die Dinge so anfühlen, als wären sie katastrophal voneinander getrennt worden? Ich hoffe, dass die Gedichte ein Gleichgewicht finden: Trauer und Tatkraft, Angst und Staunen, Zerstörung und Schönheit, Zusammenbruch und Regeneration ... was verloren ist und was noch gerettet werden könnte.
Nick Drake
2023
Über das Violinkonzert »Tipping Points«
Das Werk besteht aus sechs Sätzen, die jeweils als Antwort auf die Gedichte von Nick Drake geschrieben wurden. Einige Sätze spiegeln die Gedichte wider, andere sind von einer oder zwei Zeilen aus ihnen inspiriert, die als Sprungbrett dienen. Die Solovioline ist der Protagonist und lädt uns ein, uns mit den vier Elementen als einem emotionalen Zugang zur Situation unserer Umwelt auseinanderzusetzen.
Im ersten Satz »Invocation« drängt uns die Violine mit Besorgnis, wie ein gefangener Vogel.
Der zweite Satz »Luft«, das erste der vier Elemente, evoziert ein Gefühl der Schwerelosigkeit, einen Vogel im Flug durch sanfte Luft, gespielt in den oberen Registern.
»Wasser« ist inspiriert von dem Wunder eines sanften Regens, der freudiges Leben hervorbringt, wenn sich die grüne Welt öffnet.
In »Feuer«, dem dunkelsten der Sätze, kommt der Schrecken von Waldbränden zum Ausdruck. Die Violine wird von Klangmassen verschlungen und am Ende bleibt eine trostlose, verkohlte Zerstörung zurück.
»Erde« ist inspiriert von der außergewöhnlichen Schönheit der Natur, eine lebendige, atmende Welt im Gleichgewicht.
Und schließlich der Epilog, in dem die Violine ein Gebet anstimmt, um in Nick Drakes Worten »den Wäldern zuzuflüstern, bis sie wieder auferstehen«.
Rachel Portman
2023