Für sein Überleben ist der Mensch auf die Natur angewiesen – eine mächtige Erfahrung, die uns, auch in ihrer musikalischen Widerspiegelung, mit den Menschen vergangener Zeiten verbindet.
Da wären zum Beispiel die Jahreszeiten: 1725 erscheinen sie als titelgebendes Leitmotiv jener vier Violinkonzerte Antonio Vivaldis, die in ihrer Anschaulichkeit den Namen des Venezianers mehr als alle seine anderen Werke nach oben katapultiert haben. Ein Menschenalter später, um 1800, komponiert Joseph Haydn sein Oratorium um die Abfolge des Jahreslaufes, und in nochmals ungefähr demselben Abstand schreibt Joseph Joachim Raff zwischen 1876 und 1879 vier opulente Sinfonien zum gleichen Thema.
Jahreszeiten
Di 5.9.2023, 19.30 Uhr, Festivalzentrale Kreuzkirche
Il Giardino Armonico | Giovanni Antonini
Joseph Haydn: »Die Jahreszeiten«
In dieser Entwicklung aber muss zwischen Haydn und Raff, also im Fortgang des 19. Jahrhunderts, etwas Entscheidendes geschehen sein. Zwar stellen alle genannten Künstler das Werden und Vergehen der Natur nicht als isolierte akustische ›Landschaftstapeten‹ vor, sondern setzen sie in enge Beziehung zum menschlichen Wirken, also zur Kultur im weitesten Sinne des Wortes. Doch in den beiden älteren Werken dominiert dabei ein frisch-neugieriger, enzyklopädisch sammelnder Blick auf die Naturphänomene – unvergesslich und amüsant gleichermaßen in Haydns Oratorium über »Die Schöpfung«, wo vom Sonnenball bis zum Insekt ein ganzes Klangzeichen-Lexikon solcher Erscheinungen ausgebreitet wird. Raff indessen hat diese zupackende Diesseits-Freude der Aufklärungszeit hinter sich gelassen; an Stelle der – um Friedrich Schillers Kategorien zu adaptieren – »naiven« ist bei ihm die »sentimentalische« Naturbetrachtung getreten. Bereits bei Haydn ist dieses subjektivere Naturverhältnis in Ansätzen wirksam, und wenige Jahre später findet es in Beethovens Diktum über seine sechste, die Pastoralsinfonie – »mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei« – eine verbindliche Formel. Doch bei Raff ist die ganze Atmosphäre eine andere geworden, gebrochener und gleichsam mit Fragezeichen durchsetzt. Öfter schleichen sich düstere Stimmen und Stimmungen ein – und »Zur Herbstzeit« schließlich, als letzte der Jahreszeiten-Sinfonien komponiert, werden sie sogar dominant.
Deren Finalsatz ist eine Jagdszene, wie sie auch bei den Vorgängern vorkommt. Hier aber trägt sie einen seltsamen Titel: »Die Jagd der Menschen«. Und wenn man diese so gar nicht fröhliche, sondern dunkel-dämmerige Hatz mit ihren brutal knallenden Pauken-›Schüssen‹ und dem kalten Triumph der ›Halali‹-Fanfaren hört, drängt sich der Gedanke auf, dass das Geschehen hier womöglich aus der Perspektive des verfolgten und am Ende erlegten Tiers geschildert wird. Doch selbst, wenn es der Komponist nicht so gemeint hat: Dass da eine Irritation zwischen den Menschen und seine natürliche Umwelt getreten ist, bleibt unüberhörbar. Das gejagte Wild bei Vivaldi, der vom Himmel geholte Vogel bei Haydn werden zwar nicht ohne Einfühlung, aber doch mit quasi naturwissenschaftlichem Blick geschildert. Nun, im Zeitalter der Industrialisierung, ist es anders, und die Traurigkeit der Kreatur schlägt direkt auf das Befinden der Menschen zurück – lange vor allen sichtbar werdenden ökologischen Konsequenzen.
Eine Schlüsselszene dafür findet sich, wieder etwas später, in Claude Debussys »Pelléas et Mélisande«-Oper, wenn der kleine Yniold bei einbrechender Dunkelheit einer verängstigten und plötzlich verstummenden Schafherde begegnet. Der Schäfer, vom Kind über das Warum befragt, entgegnet nur wenige Worte: »Weil das nicht der Weg zum Stall ist«. Dann aber, so lautet die (unausgesprochen bleibende) Konsequenz, ist es wohl der ins Schlachthaus: Eine Umkehrung all dessen, was sich historisch über Jahrhunderte hin mit dem Begriff der ›Pastorale‹ als lyrisch-heiteres oder andächtiges Schäferstück verbunden hatte. Auch sonst sind sich Natur und Mensch in der Oper entfremdet: Wassertiefe und Felsgrotte oszillieren zwischen Verlockung und Schrecken, auch der Wald ist nicht mehr bergend oder heimatlich, sondern bedrohlich und die in ihm aufsteigende Nacht »sehr schwarz und sehr kalt«.
Recital: Danae Dörken
Di 5.9.2023, 19.30 Uhr, La RedouteClaude Debussy: »Sirènes« aus »Trois Nocturnes«, arr. für Klavier
Ludwig van Beethoven: Klaviersonate Nr. 15 »Pastorale«
sowie Werke von Robert Schumann und Fazıl Say
Nun ist Musikgeschichte keine Einbahnstraße. Bei Debussy gibt es neben Stücken tiefer Verlorenheit, wo sich die Natur den Menschen antwortlos verschließt, auch solche wie »Nuages«, »Sirènes« und »La mer«: faszinierende Bilder des ewigen Wandels in Atmosphäre und Wasser. Doch auch hier erscheint die Natur als ein Fremdes, nicht Verfügbares.
Das unterscheidet solche Klänge nachhaltig vom besitzergreifenden – fast möchte man sagen touristischen – Gestus solcher Werke wie den »Italienischen« oder »Schottischen« Sinfonien Felix Mendelssohn Bartholdys, den Franz Lisztʼschen Klavier-Pilgerreisen und deren Nachläufern bis hin zu Richard Straussʼ »Alpensinfonie«. Führt dort das Eintauchen in die ›draußen‹ gewonnenen Eindrücke zum enthusiastischen Ausbruch aus den Stereotypen des bürgerlichen Alltags, wobei neben natur- und kulturräumlichen auch noch geschichtliche Assoziationen in den Bilderwirbel einfließen, so zeigen die ›ewigen‹ – jedenfalls weit über ein einzelnes Menschenleben hinausreichenden – Naturgewalten beispielsweise bei Debussy oder Jean Sibelius dem Menschen eher seine Schranken: Selbst wenn die Erde unter uns leidet, wird sie länger bestehen als wir; die Natur muss sich nicht mit dem Menschen arrangieren, wohl aber dieser mit ihr.