28.8.– 27.9. 2025
24 Hebel für die Welt – Berichte aus der »Winterreise«
Ein mixed-abled Musiktheater, kreiert mit dem Verfahren »Aesthetics of Access«
Entwickelt aus dem Material der »Winterreise«. Musik von Franz Schubert
Text: Wilhelm Müller in einer Übersetzung in Leichte Sprache von Anne Leichtfuß
Eine Produktion von Un-Label
Mit Verdolmetschung in Deutsche Gebärdensprache
Jonas Relitzki | Leonard Grobien | Barbara Schachtner Performance
Toni Ming Geiger Performance und Musikalische Leitung
Friederike Blum Regie
Loriana Casagrande Bühnen- & Kostümbild
Valerij Lisac Sounddesign, Videodesign
Wolfram Sander Produktionsdramaturgie
Christian Herbert Technische Leitung & Lichtdesign
Patrick Faurot Audio- & Videotechnik
Benedikt Fuchs Tonmeister
Martha Lu Bühnenbild Mitarbeit
Lara Weiß Produktionsmanagment
Nils Duensing Produktionsassistenz
Caspar Reuter Künstler:innenassistenz
Amy Zayed | Joy Bausch Outside Eye Perspektive Sehen
Anne Leichtfuß Übersetzung Winterreise Leichte Sprache & Outside Eye Perspektive Leichte Sprache
Natalie Dedreux | Peri de Braganca Outside Eye Perspektive Leichte Sprache
Laura Vennes PR & Marketing / Un-Label
Nils Rottgardt Aesthetics of Access, Künstlerische Leitung / Un-Label
Lisette Reuter Creative Producer / Un-Label
Unser Stück heißt »24 Hebel für die Welt«.
Die Vorlage für das Stück war der Konzert·abend »Winter·reise«.
Für diesen Konzert·abend hat Franz Schubert 24 Lieder geschrieben.
Das war im Jahr 1827.
In den Liedern der »Winter·reise« geht es ums Allein-in-der-Welt-Sein.
Um Unsicherheit und Einsamkeit.
Und um eine ewige Suche.
Der Wanderer ist verzweifelt.
Aber er findet auch Trost.
Durch die Schönheit der Musik.
Er erlebt also viele verschiedene menschliche Gefühle.
Friederike Blum ist die Regisseurin des Stückes.
Statt Regisseurin kann man auch Spiel·leiterin sagen.
Sie hat das Stück entwickelt.
Zusammen mit einem mixed-abled Ensemble.
So spricht man mixed-abled Ensemble aus: mixd eybld On-sombl.
Ein Ensemble ist eine Gruppe von Künstler*innen.
Und mixed-abled bedeutet:
Sie haben ganz unterschiedliche Körper.
Es sind Künstler*innen mit und ohne Behinderung.
Zusammen haben sie aus der »Winter·reise« einen Musik·theater·abend gemacht.
Die Künstler*innen haben die 24 Lieder erforscht, bearbeitet und verändert.
Sie haben die Musik verändert.
Und auch die Texte der Lieder.
Anne Leichtfuß hat die Lieder in Leichte Sprache übersetzt.
Während der Proben sind neue Texte entstanden.
Aber manche Texte wurden nicht bearbeitet.
Sie sind im Original im Stück geblieben.
Aus all diesem Material ist eine Mischung aus Musik, Sprache, Tönen und Videos entstanden.
Man kann sagen:
Es ist eine Musik·theater-Collage.
Nichts ist mehr, wie es war.
Ein Text aus dem Stück beschreibt das:
Zuerst sind die Schauspieler*innen nicht auf der Bühne zu sehen.
Aber man hört ihre Stimmen.
Das passiert mehr•mals während des Stücks.
Wie in einem Bericht.
Es ist ein Rück·blick.
Das bedeutet:
Die Reise ist schon beendet.
Und der Bericht beschreibt, was passiert ist.
Aber dann sind die Schauspieler*innen auf der Bühne zu sehen.
Und sie erleben die Reise immer wieder von vorne.
Es ist wie bei Erinnerungen und Gedanken:
Sie haben keine Reihenfolge.
Sie springen zurück, zur Seite oder nach vorn.
Manchmal sind sie still.
Sie haben mehrere Stimmen.
Die Reise ist immer wieder neu und immer wieder anders.
Für alle verschieden.
Man kann in dem Stück nichts verpassen.
Nur entdecken.
Barriere·freiheit:
Franz Schuberts Liedzyklus »Winterreise« von 1827 gilt als eines der Heiligtümer der klassischen Musik. Viele seiner Titel wie der »Lindenbaum« sind ins kollektive Gedächtnis eingegangen, ungezählte Interpret:innen haben sich daran versucht. Meist waren sie weiß, männlich, nichtbehindert. Nun befragt »24 Hebel für die Welt – Berichte aus der ›Winterreise‹« mit einem mixed-abled Ensemble Lieder und Stoffe des Zyklus und macht daraus ein bislang einzigartiges Musiktheaterprojekt.
Der von Un-Label produzierte Abend setzt insbesondere auf Zugänglichkeit: Zum einen werden in die Inszenierung neben Audiodeskription für sehbehinderte und blinde Menschen auch Leichte Sprache künstlerisch integriert, von der neben Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen zum Beispiel auch Nicht-Muttersprachler:innen profitieren. Zum anderen versteht das Produktionsteam sein Musiktheater auch als Einladung für Menschen ohne Vorkenntnisse in klassischer Musik.
Am Anfang steht die Verwirrung, hallen Stimmen durch den Raum: »Was ist das hier? Wo sind denn alle? Sind wir noch in der ›Winterreise‹?« Ja, das sind wir. Aber ganz so, wie man sie aus dem Konzertsaal kennt, wird man Schuberts Liedzyklus im Musiktheaterprojekt »24 Hebel für die Welt« nicht begegnen. Auf der Bühne steht nicht nur ein Sänger, von einem Pianisten begleitet. Sondern da verhandeln vier Performer:innen mit unterschiedlichen künstlerischen Hintergründen das, was der Dichter Wilhelm Müller und der Komponist Franz Schubert in ihre Lieder gelegt haben: Schmerz, Orientierungslosigkeit, Trauer.
Das kann zum Beispiel so aussehen wie bei einem Probenbesuch im Studio von Un-Label in Köln: Schauspieler Leonard Grobien sitzt vor seinem Rollstuhl und greift auf seiner Ukulele Akkorde, Sängerin Barbara Schachtner pfeift dazu, während Schauspieler Jonas Relitzki Verse aus dem Lied »Letzte Hoffnung« spricht: »Ich falle selbst mit zu Boden, / meine Hoffnung ist tot. / Ich weine.« Die Worte erinnern an Müller, haben aber doch einen etwas anderen Klang. Anne Leichtfuß hat sie in Leichte Sprache übertragen.
Für zwei der Performer:innen war Musiktheater bis zu dieser Inszenierung Neuland. »Ich hatte erst mal Berührungsangst«, sagt Grobien. Relitzki ergänzt: »Mittlerweile habe ich mich mit Schubert und der Arbeit mit klassischer Musik angefreundet.« Entsprechend war eine der Leitfragen für die Inszenierung: Wie kann man die Lieder zugänglich machen für Menschen, die damit bislang nichts anfangen konnten oder nie mit ihnen in Berührung kommen konnten? »Die Musik ist toll, sie lädt geradezu ein zu einer szenischen Umsetzung«, sagt Regisseurin Friederike Blum. »Wir wollen das Publikum auf mehreren Zugangsebenen mit auf die Reise nehmen.« Dabei werden nicht alle Lieder so zu hören sein, wie Schubert sie komponiert hat. Teils improvisiert Pianist Toni Ming Geiger über die musikalischen Themen, teils werden die Texte nicht gesungen, sondern zur Klavierbegleitung gesprochen.
Im Zentrum stehen vier Menschen, die alle einen sehr unterschiedlichen Zugang zur »Winterreise« haben. »Es geht nicht darum, wie ich mir die ›Winterreise‹ vorstelle«, sagt Blum. »Sondern darum, wie wir uns gemeinsam den Weg dahin bahnen.« Dieser Weg sei sehr collagenhaft, das Ergebnis werde es auch sein. Man ahnt es beim Probenbesuch: Links steht ein schwarz schimmerndes Klavier, hinten wölbt sich eine Leinwand, die an ein Auge erinnert und auf die später Bilder projiziert werden.
Musikalisch und literarisch nutzt das Regieteam den Zyklus eher als Steinbruch. Begleitet wird der Produktionsprozess von Nils Rottgardt von Un-Label, einem wichtigen Player in der inklusiven Kulturszene. »Für uns ist wichtig, dass man aus sehr unterschiedlichen Perspektiven einen Zugang zum Abend bekommt«, sagt Rottgardt. »Was passiert, wenn man Stoffe des Kanons konzeptualisiert und sie mit der Aesthetics of Access zusammenbringt?«
Diese Zugangs-Ästhetik kann verschieden umgesetzt werden: in die Inszenierung integrierte Beschreibungen von dem, was auf der Bühne zu sehen ist, die Übertragung visueller Bühnenvorgänge in eine Soundebene – oder auch Entspannungsmomente und Rückzugsorte. Denn es gibt nicht nur räumliche, sondern auch inhaltliche und strukturelle Barrieren, die abgebaut werden müssen, um möglichst vielen Menschen Zugang zur so genannten Hochkultur zu gewähren. Für die Vorstellung von »24 Hebel für die Welt« am 2. Oktober werden Übersetzungen in Gebärdensprache angeboten.
Die inklusive Kunstszene entwickelte diesen Begriff (Deutsch: Ästhetik des Zugangs) unter Bezug auf die Behindertenbewegung in den 1970er- und 1980er-Jahren in Großbritannien und den USA. In Deutschland ist diese Ästhetik noch wenig verbreitet. Ziel ist, nicht nur das Theater für diverse Zuschauer:innen zugänglich zu machen, sondern auch ästhetisch und künstlerisch von den Mitteln für Barrierefreiheit zu profitieren, indem man sie von Anfang an in die Konzeption von Theaterstücken einbringt.
Davon profitieren übrigens alle. Dank der Leichten Sprache können zum Beispiel auch Menschen, denen Poesie oft zu gedrängt und komplex ist, Müllers Texte verstehen. So lautet die letzte Strophe von »Einsamkeit« im Original: »Ach, dass die Luft so ruhig! / Ach, dass die Welt so licht! / Als noch die Stürme tobten, / War ich so elend nicht.« In Leichtfuß’ Übertragung klingt das so: »Der Sturm ist vorüber. / Die Luft ist so ruhig! / Die Welt ist so hell! / Und mir geht es so schlecht wie nie.«
Damit der Abend wirklich für alle funktioniert, wird der Probenprozess von Expert:innen begleitet, zum Beispiel Menschen mit Sehbehinderungen, die Hinweise darauf geben, ob sich die Inszenierung für sie erschließt. Aber auch für echte Schubert-Fans dürften die »24 Hebel für die Welt« eine einmalige Erfahrung werden, die zeigt, dass diese Musik auch unter veränderten Vorzeichen zu uns spricht.
Für den Liederzyklus »Winterreise« op. 89 für Singstimme und Klavier hat Franz Schubert 1827 24 Gedichte von Wilhelm Müller vertont. In ihm spiegeln sich Weltschmerz und Verlorenheit, ein Leben ohne Ziel und Hoffnung. Vom Zyklus gibt es zahllose Einspielungen insbesondere von Bariton-Sängern; allein Dietrich Fischer-Dieskau hat ihn sieben Mal aufgenommen. Auch Sängerinnen wie Lotte Lehmann, Christa Ludwig und Christine Schäfer legten Alben vor. Bemerkenswert sind die drei Aufnahmen von Thomas Quasthoff, der unter den Sänger:innen, die sich dem Zyklus gewidmet haben, bislang der einzige mit Behinderung ist.
Text: Georg Kasch
Vor 200 Jahren wurde Beethovens weltumarmende Neunte uraufgeführt. In der Reihe der Jubiläums-Projekte im Beethovenfest 2024, gefördert aus Mitteln der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien, ist »24 Hebel für die Welt« wohl das außergewöhnlichste.
Schubert sah sich in direkter Nachfolge Beethovens und bezog sich in seiner kurzen, aber überaus produktiven Schaffensphase vielfach auf dessen Werk. Beim bahnbrechenden Uraufführungskonzert der neunten Sinfonie 1824 war Schubert dabei – das damals vieldiskutierte Stück beeinflusste Schubert in seiner eigenen Sinfonik, etwa der »großen« C-Dur-Sinfonie. Die »Winterreise« komponierte er im Jahr von Beethovens Tod, der ihn besonders erschütterte.
Beethovens Ideen von Aufklärung und Humanität, aber auch von Fortschritt innerhalb der Musik führte Schubert auf seine ganz eigene Weise fort. Das Projekt »24 Hebel für die Welt« will nicht nur diese Wirkung des späten Beethovens auf die Nachwelt darstellen, sondern auch den humanistischen Anspruch der neunten Sinfonie auf heutige und inklusive Weise erzählen. Das mixed-abled-Ensemble bindet die Perspektiven und Fähigkeiten von Personen mit körperlichen Behinderungen und anderen Lernmöglichkeiten in den künstlerischen Entstehungsprozess ein – und überwindet so die Verengung auf bloße Einschränkungen. Beethoven ließ sich durch seine Gehörlosigkeit nicht in seiner kompositorischen Kreativität einschränken – ebenso bereichernd ist das künstlerische Potential der mixed-abled Theaterarbeit.
Übersetzung: Anne Leichtfuß
Ich kam als Fremder.
Und als Fremder werde ich
wieder gehen.
Im Mai ging es mir gut.
Ich habe Blumen verschenkt.
Das Mädchen sprach von Liebe.
Die Mutter sogar von Hochzeit.
Aber jetzt ist alles aus.
Ich kann keinen Ausweg erkennen.
Ich kann mir nicht aussuchen,
wann ich reise,
wann es weitergeht.
Aber ich muss einen Weg finden.
Heraus aus dieser Dunkelheit.
Der Mond scheint.
Er ist mein Freund.
Es liegt tiefer Schnee.
Und ich suche den Weg.
Warum sollte ich noch hier·bleiben?
Damit man mich verjagt?
Ich höre die Hunde heulen,
Vor dem Haus ihres Herren;
Die Liebe kommt und geht –
So war es schon immer –
Von einer zum anderen.
Liebste, gute Nacht.
Ich will dich im Traum nicht stören,
schlaf ruhig weiter,
Darum schleiche ich
aus dem Zimmer –
Und schließe leise die Tür.
Ich schreibe nur im Gehen
noch eine Nachricht ans Tor:
Gute Nacht.
So siehst du:
Ich habe an dich gedacht.
Drüben beim Dorf
steht ein Mann mit einer Dreh·orgel.
Seine Finger sind steif.
Aber er spielt, so gut er kann.
Er steht bar·fuß auf dem Eis,
wankt hin und her.
Vor ihm steht ein kleiner Teller.
Aber der bleibt immer leer.
Niemand will ihn hören,
niemand sieht ihn an,
und die Hunde knurren
um den alten Mann.
Er lässt das alles so passieren
und spielt und spielt immer weiter.
Seine Dreh·orgel steht niemals still.
Alter Mann,
soll ich mit dir gehen?
Du spielst deine Orgel
und ich singe meine Lieder dazu?
Wie geht es jetzt weiter?
Fangen wir gemeinsam
ein neues Leben an?
Kann ich als Künstler weiter·leben?
Oder gehen wir gemeinsam
in den Tod
Wir – das Beethovenfest Bonn – laden ein, in einem offenen und respektvollen Miteinander Beethovenfeste zu feiern. Dafür wünschen wir uns Achtsamkeit im Umgang miteinander: vor, hinter und auf der Bühne.
Für möglicherweise auftretende Fälle von Grenzüberschreitung ist ein internes Awareness-Team ansprechbar für Publikum, Künstler:innen und Mitarbeiter:innen.
Wir sind erreichbar über eine Telefon-Hotline (+49 (0)228 2010321, im Festival täglich von 10–23 Uhr) oder per E-Mail (achtsamkeit@beethovenfest.de).
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Das Beethovenfest Bonn 2024 steht unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst.
Programmheftredaktion:
Sarah Avischag Müller
Noomi J. Bacher
Die Texte von Georg Kasch sind Originalbeiträge für dieses Programmheft.
