Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Julia Hagen Violoncello
Nil Venditti Dirigentin
28.8.– 27.9. 2025
Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Julia Hagen Violoncello
Nil Venditti Dirigentin
Valerie Coleman (*1970)
»Umoja«
Edward Elgar (1857–1934)
Cellokonzert e-Moll op. 85
I. Adagio – Moderato
II. Lento – Allegro molto
III. Adagio
IV. Allegro – Moderato – Allegro, ma non troppo – Poco più lento
Pause
Fazıl Say (*1970)
Sinfonie Nr. 5 op. 102
I. Revolts and Longings (İsyanlar ve Özlemler)
II. Elegy
III. Tree of Life (Hayat Ağacı)
»Missa in tempore belli«, eine »Messe in Kriegszeiten« hat Joseph Haydn 1796 für den Fürsten Esterházy komponiert. Der berühmte Beiname wurde zum Symbol dafür, dass Musik seit der Französischen Revolution nicht mehr nur militärische Siege und geopolitische Veränderungen aus der Sicht der Herrschenden formuliert. Zu ihren Themen wurden nun auch die existenziellen Nöte der Bevölkerung, und immer wieder hat die Musik seither die Rolle der Mahnerin übernommen. Das Cellokonzert von Edward Elgar entstand kurz nach dem Ersten Weltkrieg unter dem Eindruck des Zivilisationsbruchs, der den Vorzeigekomponisten des British Empire nachhaltig erschütterte. Hundert Jahre später reagiert der türkische Komponist Fazıl Say mit seiner fünften Sinfonie auf die Auswirkungen von Krieg, Pandemie und religiös motiviertem Rassismus in unserer Gegenwart. Die junge italienisch-türkische Dirigentin Nil Venditti kehrt zu dem Werk zurück, das sie vor zwei Jahren mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen uraufgeführt hat. Am Ende aber stimmt Say einen Hymnus an das Leben an – so wie die Amerikanerin of Colour Valerie Coleman, die in ihrem Orchesterstück »Umoja« von 2019 an die Einheit und das friedliche Miteinander aller Menschen appelliert.
»Als Kind habe ich im Jugendorchester gespielt, zusammen mit vielen Afroamerikaner:innen. Aber im Laufe der Zeit, während meines Studiums, war ich irgendwann die einzige im Orchester. Da habe ich mich gefragt, was hier eigentlich vorgeht. Und mir wurde klar, dass wir Vorbilder brauchen.« So hat es die Flötistin und Komponistin Valerie Coleman 2006 dem Sender NPR geschildert. Immerhin ist in den letzten Jahren ein bisschen Bewegung gekommen in die ›weiß‹ dominierte Klassikszene – und sicher hatte die ›Black Lives Matter‹-Bewegung daran ihren Anteil. Schwarze Komponisten und Komponistinnen wie Samuel Coleridge Taylor, Florence Price oder William Grant Still werden wiederentdeckt und eingespielt, es gründen sich Orchester mit People of Color. Auch Coleman hat 1997 ein Zeichen gesetzt, als sie unter dem Namen Imani Winds ein Bläserquintett mit afroamerikanischen Musiker:innen gründete, das sich der Musik ganz unterschiedlicher Kulturkreise mit einem gewichtigen Anteil von afrikanischer, latein- und nordamerikanischer Musik widmet.
Coleman stammt aus Louisville (Kentucky) im Südosten der USA, wuchs nach dem Tod des Vaters bei der alleinerziehenden Mutter auf. Sie lernte als Kind das Spiel auf der Querflöte und hat schon als 14-Jährige mehrere Sinfonien komponiert. Ihren ›Master’s Degree‹ erhielt sie am Mannes College of Music in New York City – spätestens dann wurde ihr vermutlich klar, dass sie selbst eine Art ›role model‹ für Schwarze Musiker:innen sein konnte. Ihr bekanntestes Werk »Umoja« hat sie in der Urform als schlichten Frauenchor für das Kwanzaa-Fest geschrieben. Dieser Feiertag wurde 1966 in der Schwarzen Gemeinschaft in den USA begründet. Er soll den sozialen Zusammenhalt Schwarzer Menschen durch die Besinnung auf ihre kulturellen Werte stärken – darauf weist auch der Titel »Umoja« hin, nach dem Swahili-Wort für ›Einheit‹ oder ›Gemeinschaft‹. Die heute gespielte, sinfonisch ausgearbeitete Fassung entstand 2019 im Auftrag des Philadelphia Orchestra und seines Chefdirigenten Yannick Nézet-Séguin.
In der ätherisch sanften Einleitung erklingt die »Umoja«-Melodie zuerst in der Solovioline, später in mehreren Orchesterinstrumenten, gefärbt durch die Musik aus dem Appalachen-Gebirge mit ihren europäischen und afrikanischen Einflüssen.
»Danach tanzt die Melodie und bewegt sich durch die Instrumentenfamilien«, schreibt Coleman im Vorwort der Partitur, »unterbrochen von dissonanten Passagen im Blech und Schlagzeug als Andeutung von Ungerechtigkeit, Rassismus und Hass, die in der heutigen Welt die Sehnsucht nach Stabilität bedrohen. […] Später kehrt das Thema als sanfte Erinnerung an Friedfertigkeit und Menschlichkeit zurück. Mit einem vom Blech geführten Tutti des Orchesters endet die Reise mit einem strahlenden Ruf nach Einheit, der mit der originalen Melodie verbunden ist.«
Die Sehnsucht nach Anerkennung und sozialem Aufstieg war zu allen Zeiten ein Antrieb für die Kunst – auch im Fall von Edward Elgar. Der für viele Kontinentaleuropäer ›britischste‹ aller Komponist:innen stammte zwar nicht aus der Unterschicht, sondern war der Sohn eines Musikalienhändlers aus der Gegend von Worcester in den West Midlands. Elgars Hauptberuf jedoch, das Komponieren, wurde weder vom Adel noch von Geschäftsleuten wirklich ernst genommen und galt als schwärmerische Liebhaberei. Behilflich bei der Karriere war ihm seine Frau Caroline Alice, die Tochter eines Generalmajors, die ihren Mann für den gesellschaftlichen Aufstieg ›trainierte‹ und den Selbstzweifler in seiner Laufbahn als Künstler ermutigte. So entwickelte sich Elgar nach schwierigen und erfolglosen Jahren allmählich zum anerkanntesten Komponisten des Königreichs, 1904 wurde er von Edward VII. zum Ritter geschlagen.
In dieser bemerkenswerten Aufstiegsgeschichte bildete der Erste Weltkrieg eine schmerzhafte Zäsur: Elgar empfand den Krieg als Vernichtung aller ›zivilisierten‹ Gesellschaftsformen und verfiel in eine tiefe Depression. Erst im letzten Kriegsjahr 1918 konnte er seine Antriebslosigkeit überwinden, im Herbst skizzierte er ein Cellokonzert, das im Oktober 1919 seine Premiere in der Londoner Queen’s Hall erlebte – mit mäßigem Erfolg. Tatsächlich war der herbstliche, melancholisch zurückblickende Grundzug des Werks auch kaum geeignet, beim Publikum Begeisterungsstürme zu entfachen.
Allen schnellen Sätzen geht eine längere Kadenz des Solocellos allein voraus, die an ein Opern-Rezitativ erinnert: sozusagen Meditationen eines Individuums angesichts der überstandenen Katastrophe. Dem ersten Rezitativ folgt ein Moderato in dem in England beliebten sanften Tonfall mit einem schlichten, melancholisch-wiegenden Hauptthema. Übergangslos folgen Rezitativ und Scherzo, eine brillante Studie in Tonwiederholungen mit fernen Anklängen an Felix Mendelssohn Bartholdys ›Elfentänze‹. Das Adagio gibt sich gesanglichen Melodien hin, während das Finale als der komplexeste Satz des Werks erscheint: mehrfach verschachtelt, immer wieder neu ansetzend, mit Erinnerungen an die vorangegangenen Sätze.
Obwohl Elgar noch gut vierzehn Jahre zu leben hatte, blieb das Cellokonzert sein letztes wichtiges Werk – das ergreifende Dokument eines schlichten Altersstils ohne Imponierzwang.
Wie politisch darf sich ein Künstler äußern – zumal in einem Land wie der Türkei, in dem Nationalismus, religiöse Ausgrenzungen und Menschenrechts-Verletzungen einen kritischen Stand erreicht haben? Für den aus Ankara stammenden Pianisten und Komponisten Fazıl Say jedenfalls sind persönliche Kommentare zu politischen Missständen in seinem Land ebenso selbstverständlich und notwendig wie seine Berufung auf die türkische Musiktradition, die viele seiner Werke prägt. Das hat ihm in der Türkei nicht nur Freunde gemacht. Sein Spott über islamische Bräuche auf Twitter brachte ihm 2012 eine Gefängnisstrafe wegen ›Verunglimpfung religiöser Werte‹ ein, die erst in der zweiten Instanz aufgehoben wurde. Werke wie die »Istanbul Sinfonie« oder der Zyklus »Gezi Park«, in dem Fazıl Say die Niederschlagung der Proteste in Istanbul 2013 anprangerte, weckten den Unmut der türkischen Behörden – und wurden im Westen als mutige Meinungsäußerung begrüßt.
Say kann sich solche Provokationen leisten. Als brillanter Pianist mit einem breiten und offenen stilistischen Spektrum vom Jazz bis zum klassischen Repertoire ist er mittlerweile ein Weltstar, der sich nicht den Mund verbieten lässt. Und deshalb wirkt er auch als Komponist nicht im sprichwörtlichen Elfenbeinturm, sondern setzt auf klare Botschaften und Verständlichkeit. Traditionelle Gattungen wie das Oratorium, das Solokonzert oder die Sinfonie, die von der Musik-Avantgarde lange als ›überkommene‹ Genres umgangen wurden, dienen Fazıl Say als künstlerisches Pendant zu den Sozialen Medien: Auf beiden ›Kanälen‹ will er seine Meinung äußern und zum Nachdenken anregen – auch in seiner fünften Sinfonie, die 2022 in Bremen von der Deutschen Kammerphilharmonie unter Leitung von Nil Venditti uraufgeführt wurde.
»Unser Geisteszustand während der Pandemie, der 2022 ausgebrochene Krieg, internationales Chaos … das Drama findet einfach kein Ende.«
So umschreibt der Komponist den Inhalt des ersten Satzes mit dem entsprechenden Titel »Umbrüche und Sehnsüchte«. Ein aggressiver Rhythmus, angefeuert von Pauken und dem türkischen Trommelpaar Kudüm, signalisiert die Bedrohung von Freiheit und Frieden, die auch die lyrischen Abschnitte vergiftet. Im zweiten Satz, der Elegie, erinnert Say an die »traumatischen Ereignisse des 6. und 7. September 1955, die heute genauso bedeutend sind wie damals«. Damit meint er die Pogrome an der nicht-muslimischen, vor allem griechischen Minderheit, die in Istanbul und anderswo Todesopfer und massive Zerstörungen zur Folge hatten. Im Adagio drammatico steigert sich der Satz sehr bildhaft bis zum brutalen Aufruhr, um zuletzt in die depressive Stimmung vom Anfang zurückzufallen.
Die positive Perspektive gibt der Komponist im Finale, das er »Baum des Lebens« nennt und das mit einem choralartigen Satz der Bläser beginnt:
»Er ist den Menschen gewidmet, die sich dem Leben verschrieben haben, […] eine Musik, die vom äußerst friedvollen Aksak-Rhythmus ausgeht und Erfahrungen von dramatischen Ereignissen, Trauer, Leid und gemeinsamen Glücksgefühlen in jeder Lebenssituation vermittelt.«
Text: Michael Struck-Schloen
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Programmheftredaktion:
Sarah Avischag Müller
Noomi J. Bacher
Die Texte von Michael Struck-Schloen sind Originalbeiträge für dieses Programmheft.