Wie kleine Punkte klingen die Farben der Orchesterinstrumente. Sie wandern umher, wie kleine Regentropfen, die Cymin Samawatie vor sich in den Raum tupft. Cymin Samawatie ist Dirigentin, Komponistin, Sängerin und künstlerische Leiterin des Campus-Projekts 2023, bei dem junge Musiker:innen aus Deutschland mit afghanischen und iranischen Musiker:innen zusammenspielen.
»Spielt einen Ton und wartet ab, bis alle anderen im Ensemble an der Reihe waren.«
Alles ist frei dieses Jahr. Es gibt keine Partitur, kein Werk, dem man gehorchen muss. Im Ensemble improvisieren Mitglieder des Bundesjugendorchesters, des Afghanistan National Institute of Music (ANIM), der Barenboim-Said Akademie und des Trickster Orchestras. Alle sind unterschiedlich ausgebildet, haben ihre eigenen Hintergründe und Erfahrungen aus klassischer und traditionell afghanischer und iranischer Musik, die den Klang des Ensembles formen.
Für die erste Probenphase sind im Mai alle nach Braga gekommen, die drittgrößte Stadt Portugals. Unweit von Porto liegt sie mitten in Wäldern und Hügeln. Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 haben die Kinder und jungen Erwachsenen des ANIM hier Asyl gefunden. Fast dreihundert Menschen konnte Dr. Ahmad Sarmast, Gründer und Leiter des ANIM, zur Flucht verhelfen. Zehn von ihnen spielen beim Campus-Projekt mit.
Cymin Samawatie spricht durch Gesten mit ihrem Orchester, in dem Querflöten und Violinen neben Kamantsche, Tabla, Rubab und Sitar sitzen. Die Regentropfen können zu einem Wolkenbruch wachsen, wenn die Dirigentin ihre Hände von den Seiten zusammenführt. Um die Tonhöhe oder die Lautstärke anzuheben, bewegt sie sie langsam aufwärts. Cymin Samawatie hat diese Art, gemeinsam in eine freie Improvisation zu kommen, zusammen mit dem Trickster Orchestra entwickelt. Einem Ensemble, das spielerisch mit Genres und Stilen umgeht und in ständig neuen Besetzungen auftritt. Das ist auch die Arbeitsweise für das diesjährige Campus-Projekt. Alle sind frei in dem, was sie spielen. Nur um die Sinne für die eigene Rolle und die Möglichkeiten im Ensemble zu schärfen, gibt Cymin Samawatie den Musiker:innen klare Aufgaben: einen Ton aushalten, einen Rhythmus gestalten, bewusster zuhören.
»Jede Besetzung klingt anders, weil unterschiedliche Menschen spielen.«
Bei den ersten Proben möchte Cymin Samawatie einen Raum schaffen, in dem nach und nach alle Musiker:innen ihren Platz in der Improvisation finden können. »Und dann bin ich vor allem Zuhörerin. Wenn ich merke, dass sich in einzelnen Stimmen etwas entwickelt, bin ich manchmal dafür da, den Boden zu gestalten, auf dem sie wachsen können. Bis ich immer weniger eingreifen muss und selbst vor allem Musikerin bin in einem gemeinsamen Instrument, das atmet.«
Zu den Proben in Braga ist auch die Dichterin und Autorin Mariam Meetra gekommen. Sie liest ein Gedicht über ihre Heimat Afghanistan, zu dem das Ensemble improvisiert. Das afghanische Dari-Persisch entspricht der iranischen Sprache Farsi, deshalb wird Mariam Meetra beim Konzert im September auch Texte iranischer Autor:innen vortragen. Es geht um das Schicksal und die Emotionen, die Afghan:innen und Iraner:innen angesichts der politischen Krisensituation in ihren Ländern teilen, um Zusammenhalt und Hoffnung.
Manchmal wabern die Instrumentenstimmen, versunken in sich selbst. Manchmal klingen sie heiser und tonlos, bis aus dem Geräuschhaften ein Rhythmus entsteht, der die Stimmen weiter treibt. Und alle spüren, wie die Musik gerade klingen soll.
Das Campus-Projekt beim Beethovenfest
, University of Bonn, Aula
Campus: Afghanistan & Iran
Musicians of the Barenboim Said Academy, Musicians of the Afghanistan National Institute of Music, Members of the National Youth Orchestra of Germany