»Ich lebe meine Identität als zeitgenössische Komponistin aus China mit einem wachen Blick auf die Verschränkungen von Politik, Kultur, Gesellschaft und Technologie und deren Konsequenzen. […] Ich verwandle unsere heutige Welt, ihre Krisen und Tragödien, wie auch ihre Schönheit und Vielheit, in meiner Musik – in meinen Klängen steckt schreiende Kritik und genussvolle Bewunderung für sie.«
Wang Ying
Die Komponistin Ying Wang (geb. 1976) stammt aus China und lebt in Berlin. In ihren Kompositionen setzt sie sich mit Themen wie sozialen Missständen, Umweltverschmutzung, politische Verfolgung oder menschliche Beziehungen zu Technologie auseinander. Im Rahmen des Projekts »Sieben letzte Worte« von PODIUM Esslingen und ensemble reflektor komponierte sie Musik zum allerletzten siebten Wort. Dieses tritt in Beziehung zum letzten Teil des biblischen Zyklus und Haydns Komposition zu »Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.«
Ensemble reflektor leitete daraus die moderne Problematik der Chancen und Risiken Künstlicher Intelligenz (KI) ab und diskutierte dies in einem Workshop mit Informatik- und KI-Experten. Hier entstand der Text, auf den sich die Komposition von Ying Wang bezieht. Dieser Text unterscheidet sich jedoch von den sechs vorherigen sechs »letzten Worten« – er wurde nicht von einer menschlichen Autorin geschrieben, sondern von einer KI. Fragen nach dem Wert und dem Wesen der Kunst drängen sich unweigerlich auf und konfrontiert uns mit der beunruhigenden Aussicht, dass nicht Mal die Kunst sicher davor ist, von Maschinen Konkurrenz zu erhalten.
Das biblische Motiv des behütenden Vaters wird umgedeutet als Beziehung zwischen Mensch und Maschine. Übertragen wir der KI aus freien Stücken die Fähigkeit kreativer Schöpfung und geben damit eine der letzten rein menschlichen Disziplinen – die kreative Gestaltung künstlerischer Werke – auf? Oder entwickelt sich KI zu einem empfindsamen selbstreflektierenden Wesen, das uns als seine Schöpfer identifiziert? Es geht um die Evolution der Kunst und die möglichen Konsequenzen für die Gesellschaft. Es ist eine Fragestellung, die sowohl ethische als auch kulturelle Aspekte berührt.
Ying Wangs Komposition rundet den siebenteiligen Zyklus ab und steht am Ende eines Konzerts, das vielfältige und unterschiedliche Perspektiven auf die großen Fragen unserer Zeit wirft. Mit diesem groß angelegten Projekt regen PODIUM Esslingen und ensemble reflektor zur Reflexion und zum Dialog an – vor allem laden sie aber zu einem reichen Abend voller Musik ein.